Die Bücher des Jahres 2022 bei Sounds & Books

Ian McEwan credit Annalena McAfee

Die zehn Bücher des Jahres 2022 bei Sounds & Books, ausgewählt von Chefredakteur Gérard Otremba

Standen auf meinen Endjahresbücherlisten in den vergangenen Jahren immer zwanzig Titel, so entschied ich mich nun für nur noch zehn. Wieder stattfindende Konzerte sowie ein erhöhter redaktioneller Aufwand senkten die Lesezeit deutlich. Aber ich hatte die Freude, auch dieses Jahr wieder einige ganz hervorragende Romane lesen zu dürfen. Zehn davon stelle ich noch einmal in Kurzform in der Liste der Bücher des Jahres 2022 vor. Meine sämtlichen Buchrezensionen und die meiner Kollegen sind unter der Rubrik „Literatur“ nachzulesen. Und nun viel Vergnügen mit meiner Liste der

Bücher des Jahres 2022

1. Ian McEwan: Lektionen (Diogenes)

Ein überwältigender und phänomenaler neuer Roman von Ian McEwan. Von den zahlreichen von mir gelesenen Romanen des renommierten britischen  Schriftstellers haben mich bisher „Abbitte“, „Saturday“, „Solar“ und „Kindeswohl“ am meisten überzeugt. Mit „Lektionen“ übertrifft sich McEwan noch einmal selbst. Auf 700 Seiten erzählt der 74-Jährige die Lebensgeschichte des gleichaltrigen Roland Baines anhand etlicher historischer Ereignisse und diverser moralischer Fragen, lässt Autobiographisches einfließen und entwickelt seinen typischen, nonchalanten Schreibflow, der einem auch weitere 700 Seiten versüßt hätte. Es war zwar eine knappe Entscheidung, aber ein verdienter 1. Platz in der Liste der Bücher des Jahres 2022. (Beitragsbild: Ian McEwan, Credit: Annalena McAfee) 

2. Amor Towles: Lincoln Highway (Hanser)

„Nur“ ein zweiter Platz in der Liste der Bücher des Jahres 2022, aber wohl mein Herzensbuch des Jahres. Eine herrliche, funkensprühende, nur wenige Tage dauernde Road Novel, Abenteuer- und Coming-of-Age-Geschichte der Brüder Emmett und Billy Watson, die Towles ins Jahr 1954 verlegt und brillant in der Tradition von Mark Twain, John Steinbeck und John Irving erzählt. Junge Helden und Antihelden, die auf dem Weg von Nebraska nach Kalifornien einen irrwitzigen Abstecher nach New York machen müssen. So liebevoll wie kaum ein anderer Autor entwickelt Amor Towles seine Charaktere.    

3. Julia von Lucadou: Tick Tack (Hanser Berlin)

Hätte niemals gedacht, dass ein in Threadform gehaltener Roman mit dermaßen begeistern könnte. Aber Julia von Lucadou“, die bereits mit dem Debüt „Die Hochhausspringerin“ überzeugte, gelingt ein kleiner Geniestreich und ein überaus passender Roman zur Gegenwart zwischen TikTok-Generation und „Querdenker“-Milieu. Absolut faszinierend. 

4. Thomas Melle: Das leichte Leben (Kiepenheuer & Witsch)

Der Untergang eines Ehepaars in den besten Jahren. Ein teilweise krasser Stoff, von Thomas Melle exzellent und tragikomisch in Szene gesetzt. Gleichzeitig entwirft Melle ein präzises Sittenbild einer egozentrischen und degenerierten neoliberalen Gesellschaft. Ein ganz und gar superbes Buch.      

5. Jonathan Lee: Der große Fehler (Diogenes)

Ein fabelhafter Roman über das historische New York des ausgehenden 19. Jahrhunderts, angelehnt an die Biographie des New Yorker Städteplaners Andrew Haswell Green. Ein großartiger, in der klassischen amerikanischen Erzähltradition stehender Debütroman des in New York lebenden Engländers Jonathan Lee. In Deutschland meiner Auffassung nach nicht genug beachtet. Bitte entgegenwirken, die Lektüre lohnt sich.

6. Fatma Aydemir: Dschinns (Hanser)

Mit ihrem vielschichtigen, realitätsnahen Roman über die Familie Yılmaz stößt Fatma Aydemir in die Phalanx der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen unserer Zeit. Der Lohn war immerhin die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022. Zweiter, ähnlich aufwühlender Roman wie das Debüt „Ellbogen“.

7. Leonardo Padura: Wie Staub im Wind (Unionsverlag)

Ein grandioses Gesellschaftsepos des kubanischen Schriftstellers, der in seinem neuen Roman eine generationenübergreifende Studie des Lebens in Havanna und von Exil-Kubanern in den USA zeichnet. Eine zwischen Melancholie und Euphorie changierende Lektüre zum Hineinversinken.  

8. Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher (Hanser)

Ein mit gemeißelten und ins Mark treffenden Sätzen strotzender Roman über die Themen Herkunft, Identität, Heimat, Krieg, Verfolgung, Flucht, Rassismus und Neuorientierung. Abbas Khider spielt mit den Ebenen der Realität und Fiktion und beeindruckt mit seinem fokussierten Bild auf die deutsche und irakische Gesellschaft im Wandel der Zeit.   

9. Szczepan Twardoch: Demut (Rowohlt Berlin)

Der Star der polnischen Literaturszene taucht in die deutsch-polnische Geschichte der oberschlesischen Stadt Gleiwitz nach dem ersten Weltkrieg ein. Atemberaubende, mitreißende und kompromisslose Literatur. Fünfter großartiger Roman Twardochs.  

10. Hendrik Otremba: Benito (März Verlag) Ein abgründiger und sprachgewaltiger Entwicklungs-, Coming-of-Age-, und Abenteuerroman über einen blinden, sich zum Mahner entwickelnden Pfadfinder und einen Schriftsteller, der sich seiner Vergangenheit stellen muss. Ich bin immer noch nicht mit Hendrik Otremba verwandt, weshalb es sich hier auch um keine Vetternwirtschaft handelt. Einfach sehr gute Literatur.  

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