Julia von Lucadou: Tick Tack

Julia von Lucadou credit Guido Schiefer

Ein kleiner Geniestreich: Mit „Tick Tack“ hat Julia von Lucadou einen der besten Romane des Jahres geschrieben

Von ihrer Mutter nach einem beliebten Streichkäse benannt, reift die 15-jährige Almette, Kurzform Mette, zu einer hochbegabten, etwas pummeligen Schülerin heran, die auf ihren digitalen Kanälen unter dem Namen „saycheese“ mit ihren „Suizide-Erklärbär-Videos“ für Furore sorgt, nachdem sie sich vor eine Kölner U-Bahn gelegt hat und gerettet wurde. Sie gerät ins Visier des zehn Jahre älteren, ebenfalls überaus intelligenten, zu Überheblichkeit und Arroganz neigenden Nerds Jo, der das digitale Potential Almettes erhöhen möchte. Jo erweist sich allerdings als geschickter Manipulator und Verschwörungstheoretiker, der Almette für seine Zwecke einspannt und Grenzen auslotet. Und so findet sich der neue Influencer-Star an der Spitze der sogenannten „Querdenker“-Demos wieder.

Der Reiz des Romans

Julia von Lucadou Tick Tack Cover Hanser Berlin

Es gäbe genügend Gründe, dieses Buch schnell wieder aus der Hand zu legen: Eine Social-Media-Jugend-Sprache, die ein Ü50-Kritiker nicht verstehen muss, ein Roman in Thread-Form, zwei arrogante und leidlich unsympathische Protagonisten, mit deren Ansichten wir abwechselnd konfrontiert werden, sowie das unerträgliche Geschwätz der Querdenker-Bewegung, inklusive des Missbrauchs der Person Sophie Scholl. ABER: Julia von Lucadou, die bereits mit ihrem 2018 veröffentlichten, und von uns an dieser Stelle rezensierten Roman „Die Hochhausspringerin“ ein überaus faszinierendes Debüt geschrieben hat, gelingt mit „Tick Tack“ ein kleiner Geniestreich. Der Reiz des Romans liegt natürlich in Lucadous Ausarbeitung ihrer beiden Hauptfiguren. Sind Jos Auslassungen wider die Political Correctness zu Beginn noch höchst amüsant und kabarettistisch wertvoll, geraten seine auch frauenverachtenden Ansichten im Romanverlauf zunehmend ätzend und an die Grenze des Ertragbaren.

Julia von Lucadou bleibt hart am Puls der Zeit und radikal in Form und Inhalt

Almette indes sorgt mit ihren zynischen, häufig im sehr altklugen Ton formulierten Social-Media-Eintragungen für Erheiterung und zahlt für ihre steigende Internet-Popularität einen hohen Preis. Nicht minder fein austariert sind die Nebenfiguren wie der zum Feministen und Life-Style-Blogger mutierte Vater Almettes, oder ihre bis zum großen Streit beste, türkischstämmige Freundin Yağmur, oder Jos als „Mumfluencerin“ und Impfgegnerin auffallende Mutter.  TikTok, Instagram & Co.: Julia von Lucadou entlarvt erneut die Scheinheiligkeit moderner, nach Aufmerksamkeit heischender Kommunikationsmodelle, bleibt hart am Puls der Zeit und radikal in Form und Inhalt. Die Scheinwelt der Oberflächlichkeit trifft auf eine virtuelle wie reale Vereinsamung, in der sich Mette wiederfindet.

Gesellschafts- und Digitalisierungskritik

Julia von Lucadou betreibt in „Tick Tack“ keine Pauschalverurteilung sozialer Medien, Vor- und Nachteile werden von ihr offengelegt, eine unverhohlene und offensichtliche Gesellschafts- und Digitalisierungskritik bleibt dieser Roman dennoch. Nicht zuletzt, weil die beiden Hauptfiguren in einzelnen Kapiteln ihrer Empörung über die Elterngeneration freien Lauf lassen. Das ist überaus witzig, böse und irre gut. Julia von Lucadou fängt das Lebensgefühl der TikTok-Generation und das „Querdenker“-Milieu in Zeiten der Corona-Pandemie perfekt ein. Einen passenderen Roman zur Gegenwart kann man sich kaum vorstellen. Überhäuft dieses Buch bitte mit Preisen und schenkt ihm größtmögliche Aufmerksamkeit. Einer der besten Romane des Jahres. 

Julia von Lucadou: „Tick Tack“, Hanser Berlin, Hardcover, 256 Seiten, 978-3-446-27234-7, 23 Euro. (Beitragsbild von Guido Schiefer)

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