Ian McEwan: Lektionen

Ian McEwan credit Annalena McAfee

Ein überwältigender, intensiver und epischer neuer Roman des britischen Schriftstellers Ian McEwan

Es sind so einige Lektionen, die das Leben für Roland Baines bereithält. Eine davon erfährt er 1986 zur Zeit des Tschernobyl-Unglücks. Seine Frau Alissa hat ihn und das gemeinsame, sieben Monate alte Kind Lawrance verlassen, um eine Schriftstellerkarriere anzustreben. Ian McEwan wirft die Leser mitten ins Leben seiner Hauptfigur, die zum Romanauftakt 38 Jahre zählt und somit wie sein Schöpfer 1948 geboren wurde. Auf epischen 700 Seiten begleitet McEwan seinen Protagonisten bis ins Jahr 2021 und rekapituliert dessen Leben mit eingeschobenen Rückblenden. Ian McEwan offenbart sukzessive prägende Situationen und Abschnitte im Leben von Roland Baines, häufig nicht von Baines selbst gewählte.

Erste Lektionen

Ian McEwan Lektionen Cover Diogenes Verlag

Einer von diesen prägenden Lebenseinschnitten war der Wechsel ans Internat Ende der 50er-Jahre sowie die Begegnung mit seiner elf Jahre älteren Klavierlehrerein Miriam Cornell, die sich dem elfjährigen Roland gegenüber erste Übergriffigkeiten erlaubt. Im Alter von 14 Jahren geht Roland eine abenteuerliche wie intensive Liaison mit Miriam ein, die in ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis abrutscht, die er in seiner Verliebtheit und aufgrund eines erfüllten Sexlebens gar nicht als möglichen Missbrauch erlebt. Unter Miriams musikalischen Fittichen reift Roland Baines indes zu einem talentierten Pianisten heran. Eine Karriere, die er zwar später nicht wirklich verfolgt, ihm aber im Arbeitsleben weiterhilft. Das verläuft alles andere als stringent. Vielmehr schlägt sich McEwans Hauptfigur mal mehr, mal weniger erfolgreich als Texter, Tennislehrer und Barpianist durchs Leben.

Moralische Fragen von Ian McEwan

Ian McEwan lässt, wie so häufig in seinen Romanen, seinen Helden über komplexe moralische Fragen sinnieren. Nicht selten aufgrund von gesellschaftspolitisch relevanten Geschehnissen ausgelöst und befeuert, ob nun die Kuba-Krise, der DDR-Diskurs, der Fall der Berliner Mauer oder der Brexit. Oder eben durch persönliche Fallstricke des Lebens, wie den Beziehungen zu den drei wichtigsten Frauen seiner Vita, Miriam, Alissa und Daphne, lange Zeit ein gute Freundin, später die Frau an seiner Seite. Mit dem Lebenslauf seines Protagonisten verquickt der 74-jährige Autor die Geschichte der letzten 80 Jahre vom 2. Weltkrieg bis zur Corona-Pandemie und lässt autobiographische Details wie seine Kindheit in Libyen und im Internat geradezu mühelos in den Romanplot einfließen. Und sind es nicht moralische Fragen, die Baines umtreiben, so setzt er sich mit den Varianten eines wohl anders verlaufenden Lebens auseinander, hätten einige schicksalhafte Ereignisse nur eine andere Wendung genommen.

McEwan übertrifft sich selbst

Der renommierte britische Schriftsteller, dessen Romane „Abbitte“, „Saturday“, „Solar“ und „Kindeswohl“ zu den besten zeitgenössischen Werken der letzten 25 Jahren zählen, hat sich mit „Lektionen“ noch einmal selbst übertroffen. Ein überwältigender und intensiver Roman, den Ian McEwan mit seinem typischen Flow erzählt und mit liebevollen Details schmückt. So etwa, wenn der 17-jährige Roland Baines meint, den Beatles eine eigene, großartige Melodie schicken zu wollen. Oder wenn McEwan einen berühmten Literaturkritiker der FAZ eine Rezension über einen Roman der zu Weltruhm gelangten und für den Literaturnobelpreis gehandelten Alissa J. Eberhardt schreiben lässt. Problemlos und voller Hingabe hätte man noch weitere 700 Seiten aus dem Leben des Roland Baines lesen mögen.

Ian McEwan: „Lektionen“, Diogenes, aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben, Hardcover, 720 Seiten, 3-257-07213-6, 32 Euro. (Beitragsbild von Annalena McAfee)                 

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