Die Alben des Jahres 2023 von Ben Kaufmann

Dirty Sound Magnet Pressefoto Wild Thing Records

Von Dirty Sound Magnet bis Allah-Las: Sounds & Books-Mitarbeiter Ben Kaufmann stellt seine Alben des Jahres 2023 vor

Für mich persönlich war es ein musikalisches Jahr der zeitweiligen Leerstellen und Konzertversäumnisse, aber auch eines der späten Überraschungen. Tatsächlich einige jener Alben, die bereits im Frühjahr herausgekommen und am Ende auf meiner Liste gelandet sind, entdeckte ich erst zu einem Zeitpunkt, als ich schon gar nicht mehr damit rechnete in diesem Jahr überhaupt noch auf – für mich – bedeutsame Neuerscheinungen zu stoßen.

Seit unser Soul-Schwein Eddie gänzlich nach draußen umgezogen ist, hat sich – im Hinblick auf meine Auswahl jener Neuerscheinungen – leider auch seine favorisierte Musikrichtung zumindest ein Stück weit mit ihm verflüchtigt. Stattdessen haben (Post-)Punk-Klänge, die er – unwillig quiekend – seit jeher abgelehnt hatte, wieder einen recht großen Raum eingenommen. Nun, da Eddie sich über das Jahr hinweg draußen etwas abhärten konnte, ist er womöglich auch offener gegenüber raueren Sounds geworden. Wir werden nächstes Jahr sehen, ob der (Post-)Punk bis dahin auch draußen geduldet wird oder ob der Soul im Zeichen unserer musikalischen Verbindung in stärkerem Maße zurückkehrt. Hier sind jedenfalls meine

Alben des Jahres 2023

1. Dirty Sound Magnet – Dreaming in Dystopia

Mein persönliches musikalisches Highlight dieses Jahr wurde aus einer Intuition geboren. Ohne die Band zu kennen sah ich das Albumcover, las den Titel und erahnte bereits, dass es eine starke Verbindung hervorrufen könnte – ich wurde nicht enttäuscht. Das Schweizer Trio aus Fribourg hat hier eine Platte vorgelegt, die – hinsichtlich poetischer Hingabe an und sensorischer Empfindsamkeit für einen eigens erzeugten Klangraum – derzeit ihresgleichen sucht. Psychedelia trifft auf Indie Folk trifft auf Dirty Sound Magnet.

2. Night Beats – Rajan

Danny Lee Blackwells Ausflug zum ebenfalls wunderbaren Sideproject ‚Abraxas‘ und der damit einhergehende Wechsel zu ‚Suicide Squeeze Records‘ hat auch dem Sound der Night Beats hinsichtlich musikalischer Raffinesse und sphärischer Dichte hörbar gut getan. Die südamerikanischen Einflüsse aus Blackwells überaus fruchtbarer Zusammenarbeit mit der Gitarristin Carolina Faruolo bringt eine – gegenüber den beiden Albumvorgängern – wohltuende Frische zurück; gleichzeitig sind die Night Beats ihrem Sound zwischen psychedelischem R&B und Outlaw-Soul in unverkrampfter Weise treu geblieben.

3. Smile – Price of Progress

Überrumpelt von einer eruptiven Kraft hatte ich zunächst das Gefühl in einen Massencrash zwischen Le Tigre, The Kills, Siouxsie and the Banshees, Sonic Youth und Dry Cleaning geraten zu sein. Als ich wieder zur Besinnung kam, spürte ich die düster-poetische Note von Rubee True Fegan und die klug und immer wieder subtil eingearbeiteten Postpunk-Klänge der Kölner Instrumentalriege. Ein in Zeiten der Isolation geborenes Album, über das man noch sprechen wird.

4. slowthai – UGLY

Eine musikalische Erfahrung, so drastisch, als könne ich gar den Geruch der rauen Northamptoner Sozialbauten wahrnehmen; gleichzeitig so ideenreich, dass ich nur den Hut ziehen will. Der von Journalistin Kitty Empire als Grime-Punk betitelte Stil lässt Hörern keine große Wahl: entweder er schmettert sie gegen die Wand oder saugt sie in seinen energisch pulsierenden Kern. Gerade die Songs “Sooner“ und “Never Again“ laufen bei mir bis heute in diversen Playlisten rauf und runter.

5. Die Quittung – Einfrieren

Da ihr Debütalbum von 2019 leider zunächst an mir vorbeigegangen war, ist dieser Nachfolger meine erste Berührung mit der vielversprechenden Leipziger Band. Mit Pop, freigeistigem Folkrock, sanften Jazzflächen und bratzigen Synthie-Sounds zwischen Funk und NDW angereicherte Klangräume begeistern in ihrer Vielfalt und wirken doch balanciert-geerdet. „Du bist nicht da, weil du viel zu viel sein willst.“ Wenn Josen Bachs raue Stimme mal freiflirrend, mal punkig-unmittelbar den gesellschaftlichen Stillstand beklagt, komme ich nicht umhin an Rio Reiser zu denken.

6. Sparklehorse – Bird Machine

Mark Linkous‘ immer wieder an Sean Lennon und Mark Oliver Everett erinnernde Stimme kehrt nach seinem Selbstmord vor 13 Jahren zurück. Die seither verschütt gegangenen, nun von Linkous‘ Bruder Matt posthum entdeckten und mit Hilfe von Weggefährten überarbeiteten Songs tragen die gewohnte Sparklehorse-Brüchigkeit zwischen tiefgründiger Energie und dunkler Melancholie in sich. Das Album ist daher ein tragisch-schönes Vermächtnis des häufig von Depressionen geplagten Vollblutmusikers, welches mich – auch aufgrund des erneut eindringlichen Songwritings – nicht so schnell loslassen wird.

7. Geese – 3D Country

Das zweite Album der fünfköpfigen Band aus Brooklyn ist eine wunderbar irre Mischung aus Blues Rock und Indie Folk, aus schrammeligen Gitarren, Soul-Arrangements und erstaunlich breitgefächerten Vocals, die sich innerhalb eines einzigen Songs problemlos zwischen einer fülligen Zach Condon-Stimme, der eigentümlichen Sprechintonation eines Jonathan Richman und einem Falsetto à la Thom Yorke bewegen können. Trotz hochwertiger Produktion überträgt sich beim Hören des Albums der Spaß am Jammen ähnlich gut, als besuche man die Band im Proberaum.

8. Element of Crime – Morgens um Vier

Ich erahne nicht der einzige zu sein, der sich darüber freut, dass einige Tracks dieses Albums endlich wieder einmal schön spelunkig klingen. Vor allem die Songs “Unscharf mit Katze“, “Ohne Liebe geht es auch“ und “Wieder Sonntag“ erinnern mich an die Zeit des Albums “Damals hinterm Mond“ und wunderbar rauchige Tracks wie “Blaulicht und Zwielicht“. Ansonsten verschmelzen Regeners surreal und süffisant verschachtelte Texte in gewohnt einzigartiger Manier mit den schwermütigen Klängen zwischen Rock, Chanson und Country. Weitere Herzensangelegenheit: auch die Trompete ist wieder präsenter.

9. Unknown Mortal Orchestra – V

Das Spannende bei dem Trio um Ruban Nielson ist, dass es stets zweierlei kreiert hat: eingängige (aber niemals banale) und experimentierfreudigere Musik. Meist vereinen sie beide Ausrichtungen auf einem Album, manchmal sogar in einem Track. Dies beweisen sie auch auf ihrem neuen, nuancierten Werk, welches – in der gewohnt eigentümlichen Mixtur aus Funk und Neo Psychedelia – aufzeigt: ein UMO-Song gibt sich freimütig, aber unaufgeregt zu erkennen.

10. Shame – Food for Worms

Wenn auch nicht mehr ganz so experimentell wie beim Albumvorgänger “Drunk Tank Pink“, liefern die fünf Lads aus South London wieder feinsten britischen Post-Punk; stets changierend zwischen exaltierten und introspektiven Momenten.

11. CAVA – Damage Control

Ähnlich wie bei einem guten Genrefilm zeigen uns die Berliner Riot Girls Peppi und Meli, dass man mit einfachen Mitteln und viel Herzblut – gerade in Zeiten der stilistischen Potpourris – eine energiegeladene Garage-Punk-Platte kreieren kann. No way back!

12. Jason Joshua – La Voz de Oro

Jason Joshua präsentiert erneut einen originären Sound im Stil der späten 60er Jahre, pendelnd zwischen Chicano Soul, Funk und Salsa. Die stimmliche Bandbreite ist derart beeindruckend, dass man sich zu keiner Zeit über den Albumtitel wundert; sehr wohl aber darüber, dass man hier durchweg den gleichen Sänger hört.

13. Buck Meek – Haunted Mountain

Ein Mann liegt oberkörperfrei auf einem sonnengetränkten Fels. Er verschränkt die Arme zum Schutz der Augen; gleichzeitig nimmt der Körper wohlwollend die wärmende Energie auf und erdet sich über die händische Berührung des Felsen. Wenn ein Cover die Stimmung des dazugehörigen Albums denkbar gut in ein Bild fasst. Denn sonnengetränkt sind auch die Songs, in ganz unterschiedlicher Hinsicht: mal verträumt, mal im Aufbruch, mal nachdenklich. Die charismatische, stellenweise auch schön schräge Stimme des ‚Big Thief‘ Gitarristen trifft auf Folk- und Country-Klänge.

14. Cat Power Sings Dylan – The 1966 Royal Albert Hall Concert

Braucht es wirklich noch ein Dylan-Cover-Album? Meine Antwort würde selbst (oder gerade) als Dylan-Liebhaber zunächst grundlegend lauten: nein bis nicht unbedingt. Nun kam Cat Power und tat es einfach, zudem ausgerechnet ein Cover der berüchtigten Live-Platte von 1966 (dessen Aufnahmen tatsächlich gar nicht in der Royal Albert Hall gemacht, aber so vermarktet wurden). So groß der auferlegte Druck, so entschieden erklingt das Ergebnis; allen voran “She Belongs To Me“ und “Visions of Johanna“ habe ich selten so gefühlvoll erlebt.

15. Gaz Coombes – Turn the Car Around

Mit einem ideenreichen Songwriting zeigt sich der ehemalige ‚Supergrass‘-Sänger auf seiner vierten Soloplatte nun noch gereifter als auf den vorherigen Alben. Hochwertig produziert und klanglich versiert haben sich einige Tracks direkt in meinen Gedanken verankert. Vor allem der funkige “Feel Loop (Lizard Dream)“ lief bei mir über den kompletten Sommer hinweg.

16. Lol Tolhurst, Budgie & Jacknife Lee – Los Angeles

Ursprünglich hatten die ehemaligen Drummer von ‚The Cure‘ und ‚Siouxsie and the Banshees‘ – Tolhurst und Budgie – den ‚Bauhaus‘-Drummer Kevin Haskins mit im Boot. „Like the Three Tenors, but with drummers“, beschrieb Tolhurst mit süffisanter Note das Projekt zu dieser Zeit, bevor der erfahrene Producer und Mixer Garret ‚Jacknife‘ Lee an Haskins‘ Stelle trat. Den Gastsängern James Murphy (LCD Soundsystem), Bobby Gillespie (Primal Scream) und Isaac Brock (Modest Mouse), sowie dem Gitarrist The Edge (U2) wurde das entstandene Material in Lockdown-Zeiten zur Verfügung gestellt, um es nach eigenem Dünken zu interpretieren. Heraus kam ein überaus interessantes musikalisches Experiment, das in Goth gebadeten Elektro mit Industrial-Klängen verschmilzt.

17. Xiu Xiu – Ignore Grief

Kein Album, das ich mir zum Abendessen anhören würde; eher eines, das mich ähnlich in Besitz nimmt wie ein David Lynch Film, vor allem mit Kopfhörern. Progressiver wird es derzeit eher nicht mehr. Wie Dietmar Dath in der FAZ einmal so treffend über seine Erfahrung mit einem provokanten Horrorfilm schrieb: „Ich kann mir nicht helfen, mir gefällt sowas.“

18. Algiers – Shook

Auch wenn ich im Gegensatz zu vielen anderen Hörern auf dieser Platte nur wenig Post-Punkiges entdecken kann, sondern mich – noch entschiedener als bei den Albumvorgängern – auf einer experimentellen Hip Hop-Reise mit deutlichen Gospel- und Soul-Noten wähne, nahmen mich die subtil arrangierten Songs mit ihrem poetisch-dystopischen Charakter von Beginn an gefangen.

19. Queens of the Stone Age – In Times New Roman …

Da die Veröffentlichungen der Truppe um Josh Homme bei mir immer mit hohen Erwartungen verbunden sind, ist es recht schwierig mich gänzlich zufriedenzustellen. Beim ersten Hören haben sie mich – gerade im Vergleich zum Vorgänger “Villains“ – vorerst nicht enttäuscht; beim zweiten Hören realisierte ich jedoch, dass ich immer noch die Eindringlichkeit des Debütalbums oder die instrumentelle Raffinesse der “Songs for the Deaf“-Platte vermisse. Trotz dieser Erkenntnis gegenüber den persönlichen Herzstücken aus vergangenen Tagen gibt es durchaus auch auf dieser Platte Songs, die mir weiterhin im Ohr bleiben: etwa der an “Little Sister“ erinnernde Track “Paper Machete“, der geradlinige “What the Peephole Say“, der verrätselte “Sicily“ und der klanglich unverkennbare “Emotion Sickness“.

20. Black Pumas – Chronicles of a Diamond

Nachdem mir ein Freund im Sommer erst das Debütalbum der Black Pumas von 2019 gezeigt hatte, war ich gespannt, welchen Sound das texanische Duo nun – nach 4 Jahren – auf seinem neuen Album präsentieren würde. Heraus kam erneut eine feine Soul-Platte; im Vergleich zur ersten etwas moderner angelegt. Eric Burtons vielseitige Stimme groovt durch einen Soul-Funk-Dschungel. Die Latin-Einflüsse des Gitarristen Adrian Quesada aus seiner Zeit bei der ‚Grupo Fantasmo‘ sind noch zu hören, wenn auch leider etwas seltener als zuvor.

Weitere nennenswerte Alben:

21. Wednesday – Rat Saw God

22. The Clientele – I Am Not There Anymore

23. Bebel Gilberto – João

24. The Nude Party – Rides On

25. Allah-Las – Zuma 85

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