Das vierte Studioalbum von Dirty Sound Magnet ist eine Ode an die Befreiung der Musik
von Ben Kaufmann
Augen zu. Kopfhörer an. Wogende Wasser- und Klangwellen. Fades Licht bricht sich Bahn. Lindgrün und klar treiben Melodien aus weit entfernten Träumen heran. Der rebellische Prophet verharrt mit einem Hoffnungsschimmer; doch ächzende Stimmen aus dem Tal durchbrechen die zarte Stille. Angst vor dem Unbekannten greift um sich. Deformierte Wesen schreiten in wilder Schönheit durch den Wald. Jodorowskys “El Topo“ flimmert auf einer verschlissenen Leinwand, während die Zeit ihren Bezug zur Realität verliert. Der Blick von oben ist ein bestrafender. Brennende Fabriktürme erleuchten den Horizont; der Aufstand naht. Im Inneren eines Kaleidoskops überlagern sich Bilder des tanzenden Propheten. Er richtet sich an den ‚Astronomy Domine‘ und bittet um sphärischen Begleitschutz. Stille kehrt zurück; sein träumender Geist
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zerfließt in der Melodie. Umschlungen von Wasser beginnt der Prophet zu singen; die Musik erklingt bis in alle Ewigkeit.
Dirty Sound Magnet folgen „keiner konventionellen Struktur“
Von der autobiographisch gefärbten Geschichte, in einer ohnehin orphisch verrätselten Umgebung als Außenseiter aufzuwachsen, erzählt der Opener “Melodies From Distant Shores“. Eine an Leonard Cohen erinnernde Stimme wird von somnambulen Gitarrenklängen berauscht und von widerstrebenden Schreien konterkariert.
Es ist, als hätte sich das Schweizer Trio aus dem sagenumwobenen Fribourg zur Aufgabe gemacht innere musikalische Prägungen nach und nach aus deren genre- und klangbehafteten Fesseln zu befreien. Dafür mussten sie bereits den geradlinigen Hardrock – den sie noch bis 2015 mit Sänger Didier Coenegracht spielten – hinter sich lassen und in progressivere Gefilde vorstoßen. Auf dem Weg zu ihrem neuen Album haben Stavros Dzodzos (Gesang und Gitarre), Marco Mottolini (Bass) und Maxime Cosandey (Schlagzeug) ihren Sound weiter emanzipiert. „Wir folgen der Musik, wo immer sie uns hinzieht.“ In Zeiten, in denen vieles nach gängigen Erfolgsmustern reproduziert wird, vertrauen die Drei auf ihre spirituelle Verbundenheit und was aus dieser hervorgeht.
Einflüsse und befreiende Zwischentöne
Neben den klassischen Psychedelic-Elementen, welche die Band gemäß ihres Namens in nahezu jedem ihrer Songs magnetisch anzieht, findet man unzählige Verbindungen zu anderen Genres und Artists. Signifikante Tempowechsel und mystisch anmutende Kompositionen der frühen Genesis-Alben (“Melodies From Distant Shores“), die zitternd brüchige Stimme eines Brian Eno (“Flowers, Angels And Chaos“), Anknüpfungen an zeitgenössische Neo-Psychedelia-Strömungen (“Dreaming in Dystopia“ und “Lost My Mind“), originell arhythmische Klanggebilde eines jungen Syd Barrett (“The Tragedy of Men“) oder dramaturgisch geschickt eingepflegte Background Vocals der Animals (“Melodies From Distant Shores“).
Doch das Album auf diese Bezüge zu reduzieren wäre fatal. Was jene Songs derart befreit fliegen lässt, findet man eher in den Zwischentönen: der kurze Einschub eines Kammermusikarrangements bei “The Tragedy Of Men“, die Evokation eines Anti-Western im Stile der 60er Jahre beim subversiven Protestmarsch “Utopia“ oder das unbefangene Intro von “Lonely Bird“, das hinsichtlich der intonierten Leidenschaft seines Gleichen sucht.
Dirty Sound Magnet „call it creative rock because the music can go anywhere“
Sie meiden einschränkende Kategorisierungen in der Musik; wissen jedoch, dass diese in kommerziellen Belangen notwendig sind. Dass eine Einordnung gerade in ihrem Fall so schwerfällt, liegt neben jenen popkulturellen Einflüssen auch an subtil eingeflochtenen traditionellen Harmonien. Neben der Schweiz gibt es in der Band italienische, ungarische und griechische Wurzeln und dementsprechend vielfältige musikalische Prägungen.
Zudem wuchs das Trio fernab einer gelebten Szenekultur auf; somit war Rockmusik stets mit etwas Traumhaftem verbunden. Wie sich diese romantische Isolation in kreativer Weise auf den eigenen Songwriting-Prozess auswirken kann, verklangbildlicht und fabuliert der epische Closing Track “Insomnia“. Instrumental zweigesichtig – abwechselnd an Pink Floyds interstellare Epen und King Crimsons “21st Century Schizoid Man“ erinnernd – mündet Dzodzos‘ eigenwillige Stimme nicht in den musikalischen Überbau. Vielmehr formt sie – mal poetisch zart gesprochen, mal verzerrt vibrierend – einen eigenen mäandernden Lauf und gedeiht darüber selbst zum Instrument. Frei arrangiert eröffnen sie bewusstseinserweiternde Räume.
„Dreaming in Dystopia“ von Dirty Sound Magnet erscheint am 20.10.2023 bei Wild Thing Records. (Beitragsbild: Michael Maillard)