Rolling Stone Beach Festival 2023 – Die Review

Rolling Stone Beach Festival 2023Thee Sacred Souls by Gérard Otremba Sounds & Books

Das Rolling Stone Beach Festival 2023, u.a. mit Tocotronic, The Notwist, Dinosaur Jr., Thees Uhlmann, Charlotte Brandi und Jerry Leger

Text und Fotos von Gérard Otremba

Die vierzehnte Austragung des Rolling Sone Beach Festivals seit 2009 (bis 2018 Weekender, 2020 pandemiebedingter Ausfall) am Weißenhäuser Strand begann gleich mit einem Paukenschlag. Der nicht nur von Sounds & Books gefeierten deutschen Band Die Nerven, deren Alben „Die Nerven“ und „Fake“ wir besprochen haben, fiel die Ehre der Eröffnung auf der Zeltbühne zuteil. „Da tut ihr euch was an“, meinte Sänger und Gitarrist Max Rieger, der als All diese Gewalt just das Werk „Alles ist nur Übergang“ veröffentlicht hat, süffisant. Alle, die dabei waren, taten sich etwas richtig Gutes an. Gemeinsam mit Schlagzeuger Kevin Kuhn und Bassist und Sänger Julian Knoth zeigte Rieger, was im Genre des Post-Punk, Indie- und Noise-Rock noch immer alles möglich ist. Eine gesunde Härte, Melodieverbundenheit, unbändige Energie und ein hohes Intensitätslvel waren der Faustpfand für diesen großartigen Auftritt.

Der wunderbare Tristan Brusch

Nicht minder intensiv, indes in einem ganz anderen Spektrum zu Hause fiel anschießend das Konzert von Tristan Brusch im Möwenbräu aus. Ursprünglich für 22.45 Uhr terminiert kam es zu einem kurzfristigen Wechsel mit Girl And Girl, jedoch stand auch Brusch im Stau und kam erst eine knappe Stunde vor Beginn seines Sets am Ort des Geschehens an. In Begleitung von Liv Solveig an Geige und Keyboard, Ralph Heidel an Saxophon und Keyboard sowie Damian Dalla Torre an der Bassklarinette spielte er das Gros seines im März erschienenen Meisterwerks „Am Wahn“, von „Baggersee“ und „Mirage“, über „Am Herz vorbei“ und „Monster“ bis zu „Oh, Lord“ und „Für Theo“.

Ergreifender konnte es beim Rolling Stone Beach Festival 2023 nicht mehr werden. Singer-Songwriter-Chanson-Romantik wie man sie in diesem Lande kaum besser zu hören bekommt. Etwas fürs Herz auf diesem Rock’n’Roll-Event. Und Bruschs Ansage „Meine Songs funktionieren am besten, wenn ihr alle die Schnauze haltet“ war zwar sehr deutlich, aber für einige Unbelehrbare auch nötig, denn leise sein, zuhören und genießen heißt einfach das Rezept bei der Musik von Tristan Brusch. Und nein, Tristan, Du hast uns nicht deprimiert, es war einfach nur wunderschön.

Girl Scout und Tocotronic beim Rolling Stone Beach Festival 2023

Im Zelt gab es fast zeitgleich souveränen und mitreißenden Soul-Funk von Altmeister Lee Fields, den wir an gleicher Stelle bereits 2017 fotografiert und vorgestellt haben. Und da bei Fehlfarben offizielles Fotoverbot für uns Journalisten herrschte, änderte sich mein Plan ein wenig und es folgte ein Kurztripp in die Alm zu Girl Scout. Das schwedische Quartett um die stimmgewaltige Sängerin und Gitarristin Emma Jansson sammelte Pluspunkte aufgrund seines sympathischen Auftretens und seines mit Verve vorgetragenen Indie-Pop-Rock. Die Power in Janssons Stimme war schon ziemlich phänomenal und die Songs machten ebenfalls Laune auf mehr Musik von Girl Scout.

Kurztrip deshalb, weil nur eine halbe Stunde später Tocotronic das Zelt rockten. 30 Jahre Tocotronic gilt es dieses Jahr zu feiern, dementsprechend fiel auch die Setlist ihres 85-minütigen Gigs beim Rolling Stone Festival 2023 aus. Eine Art Chronik des bisherigen Schaffens und weil die Tocos live halt einfach immer besser werden, machen alte Klassiker wie „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“, „Digital ist besser“, „Die Welt kann mich nicht verstehen“ oder „Drüben auf dem Hügel“ nunmehr auf der Bühne noch viel mehr Sinn. Und genau dieses Gefühl vermittelten Tocotronic wie schon im Sommer im Hamburger Stadtpark (Sounds & Books berichtete).

Und weil auch „Eure Liebe tötet mich“, „Aber hier leben, nein danke“, „This Boy Is Tocotronic“, die große Hymne „Let There Be Rock“ sowie mit „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ und „Ich tauche auf“ u.a. zwei der schönsten Lieder des aktuellen Albums „Nie wieder Krieg“ gespielt worden sind, war es mal wieder ein reichlich überwältigendes Tocotronic-Konzert.

The Lathums und Dinosaur Jr.

Zugegeben, die britische Band The Lathums schwebte bisher irgendwie an Sounds & Books vorbei, obwohl bereits zwei Alben erschienen sind. Das sollte sich nach ihrer Darbietung im Baltic Saal jedoch ändern. Klar, wer mit den Klängen von Roy Orbisons „Pretty Woman“ auf die Bühne tritt, muss es einfach draufhaben. The Lathums haben es drauf. Indie-Rock-Brit-Pop zum Verlieben, große Melodien, die jetzt schon nach großen Hallen schreien, irgendwo zwischen DMA’s und U2 changierend. Kurzweilig, euphorisierend und aus einem Guss. Das hat mächtig viel Spaß gemacht. Und verdient zukünftig mehr Aufmerksamkeit bei Sounds & Books.

Drauf haben es auch Dinosaur Jr., die zuletzt 2016 beim Rolling Stone Beach Festival auftraten (Sounds & Books berichtete) noch immer. J Mascis, Lou Barlow und Murph sind nach wie vor maximal coole Typen und zogen ihr Alternative-Rock-Ding ohne Gnade durch. Sich türmende Marshall-Boxen und ein demonstrativ lauter Sound prägten das Konzert, so wie es sich wie Dinosaur Jr. eben gehört. Mit einem fetten Tinitus beendeten wahrscheinlich so manche den ersten Tag des Rolling Stone Beach Festivals 2023.

2. Tag beim Rolling Stone Beach Festival 2023

Nach dem mittäglichen Rahmenprogramm mit Redaktionstalkrunde des Rolling Stone, dem Pop-Quiz und den Lesungen von Jens Balzer aus „No Limit – Die Neunziger, Das Jahrzehnt der Freiheit“ sowie von Birgit Fuß aus „R.E.M.: Life And How To Live It -Die Geschichte einer Rockband, die (fast) keinen keine Fehler machte“ (mit musikalischer Begleitung von Tom Liwa), begann der musikalische Reigen am zweiten Tag des Rolling Stone Beach Festivals um 16.45 Uhr mit Will Butler + Sister Squares. Butler verließ 2022 seine Stammband Arcade Fire und brachte mit Sister Squares, also Miles Francis, Sara Dobbs, Jenny Shore und Julie Shore unlängst das selbstbetitelte Debütalbum heraus. Das Quintett begann auf einem ungemein hohen Energielevel, die drei Damen waren in ihrem Bewegungsdrang kaum zu bremsen, der Indie-Pop-Rock ein Ausbund an ansteckender Fröhlichkeit. Später nahmen die Synth-Pop-Anteile zu, insgesamt ein perfekter Start in den zweiten Festival-Tag.

Shred Kelly und Charlotte Brandi

Den bereits hohen Energielevel konnten Shred Kelly im Zelt noch ausbauen. Die live als Quintett auftretende Band fegte durch ihren Country-Folk-Rock, dass es eine Pracht war. Gelegentlich schoben sie mal die ein oder andere Ballade ein, doch auch diese wirkten in ihrer Hymnik enthusiastisch. Viel Drive, viel Hingabe und ein Banjo kam auch zum Einsatz. Da ließ man sich gerne berauschen.

Bei Charlotte Brandi stand anschließend im Baltic Saal eher das feinsinnige Kunstlied im Vordergrund. Die von Romy Jakovcic (Pauls Jets) am Bass und Aine Fujioka am Schlagzeug begleitete Songwriterin verführte durch ihre makellose Stimme und Songs aus ihrem im Februar veröffentlichten Album „An den Alptraum“, darunter das muntere „Geld“, das verträumte und melancholische „Luzern“ und den Country-Schunkler „Todesangst“. Das im Original mit Dirk von Lowtzow eingesungene „Wind“ performte die erkrankt auftretende Musikerin ebenfalls. Einen vergessenen Text überspielte sie auf eine sehr charmante Art und rocken kann sie auch. Ein voller Genuss, dieser Gig. Charlotte Brandi, ein unbedingte Empfehlung.

Thee Sacred Souls und Thees Uhlmann

Als eine solche entpuppten sich auch Thee Sacred Souls. Bis dato von mir noch nicht wahrgenommen, bot das Septett um den charismatischen Sänger Josh Lane feinsten Vintage-Sixties-Seventies-Soul. Sehr smooth, sehr deep, erwärmte Herz und Seele. Da hat das Daptone-Label definitiv einen guten Fang gemacht. Und wer zu Weihnachten eine Soulalbum verschenken möchte, der könnte das 2022 veröffentlichte, selbstbetitelte Debüt von Thee Sacred Souls nehmen. Die zu Beschenkenden sollten sich freuen.

So, wie man sich immer freut, Thees Uhlmann lauschen zu dürfen. Vor zwei Jahren an gleicher Stelle noch mit voller Band unterwegs gewesen (Sounds & Books berichtete), durfte der kultige Hamburg-Berliner-Songwriter diesmal als Solist die Fans im Zelt beglücken. Uhlmann gehört zu den kommunikativen Rockmusikern dieser Welt, denen die Interaktion mit den Anhängern per se zu liegen scheint. Eine Art Selbstläufer für ein Festival wie das Rolling Stone Beach. „Fünf Jahre nicht gesungen“, „Danke für die Angst“ und „Die Toten auf dem Rücksitz“ waren der starke Beginn und obwohl sonst nicht mit politischen Ansagen auf seinen Konzerten unterwegs, ließ es sich Uhlmann aufgrund aktueller Ereignisse nicht nehmen, seine volle Solidarität mit Israel und den in Deutschland lebenden Juden zu bekunden, und anschließend das berührende „17 Worte“ zu spielen. Thees Uhlmann fand mal wieder die richtigen Worte, danke dafür, danke für das Konzert.

Jerry Leger und The Notwist bei Rolling Stone Beach Festival 2023

Bedanken muss man sich natürlich auch bei Jerry Leger. Für seine von uns seit einigen Jahren begleitete Musik sowieso und dass er sein aktuelles Album „Donlands“ beim Rolling Stone Beach Festival 2023 in voller Länger auf der kleinen Bühne des Möwenbräu aufführte. Der kanadische Songwriter erhielt dankenswerterweise großen Zuspruch von Seiten der Festival-Besucher, sonst muss sich Leger leider noch immer mit relativ wenigen Fans bei seinen deutschen Konzerten begnügen. Mit seiner Band The Situation spielte er ein beseeltes Konzert und Songs wie „Three Hours Ahead Of Midnight“, „The Flower And The Dirt“ und „Out There Like The Rain“ erstrahlten im Live-Glanz. Viel besseren Americana-Singer-Songwriter-Folk-Rock gab es dieses Jahr nicht.

Als Headliner des zweiten Tages blieb es The Notwist vorbehalten, das Rolling Stone Beach Festival 2023 gebührend zu beenden. Die artifizielle und experimentelle Ausrichtung der Musik der Band aus Weilheim ist nach wie vor bemerkenswert. Manchmal clubaffin tanzbar, manchmal im Orbit nach den Sternen greifend, manchmal progressiv und vertrackt und manchmal der richtige Soundtrack für das spätabendliche Gespräch mit der Festivalbegleitung. Ein würdiges Festival-Finale.

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