Rolling Stone Weekender 2016 – Konzertreview

Der erste Tag beim Rolling Stone Weekender 2016: Dramatisch, filigran und laut

Text und Fotos von Gérard Otremba

„Die Frauenquote erhöhen“, war der Kommentar des Sounds & Books-Chronisten nach dem letztjährigen Rolling Stone-Weekender auf der Facebook-Seite des Veranstalters auf die Frage nach etwaigen zukünftigen  Verbesserungsvorschlägen. Der Wunsch ging bereits schneller in Erfüllung als gedacht. Bei der achten Ausführung des seit 2009 am Weissenhhäuser Strand an der Ostsee durchgeführten Indoor-Rock-Festivals standen mit Amanda Plamer, Julia Holter, Aldous Harding und Agnes Obel schon mal vier Damen als Solo-Act, oder mit Bandbegleitung auf dem Programm. Am Freitag, 04.11., eröffnet die amerikanische Songwriterin und Autorin Amanda Palmer den Rolling Stone-Weekender 2016. Die als Sängerin bei The Dresden Dolls bekannt gewordene Musikerin tritt mit ihrem „Elton John“-Flügel in der großen Zeltbühne auf, ein vielleicht etwas unglücklich gewählter Ort für ihren kunstbefließenen Art-Pop, der u.a. mit Brecht/Weill-Coverversionen und einer entschleunigten Fassung des Beatles-Klassikers „Paperback Writer“ brilliert. Ein kleinerer Auftrittsort wie der Baltic-Festsaal zu einer späteren Stunde wäre wohl angemessener gewesen. Aber die 40-jährige Amanda Palmer schafft den Spagat aus düster-trauriger Stimmung und großer Drama-Queen mühelos und beeindruckend.

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Für den ersten Auftritt im besagten Baltic-Festsaal war die amerikanische Musikerin Julia Holter angekündigt. Leider stand Julia Holter mit ihrer Band längere Zeit im Stau und traf erst eine Viertelstunde vor ihrem eigentlichem Konzertbeginn beim Weekender ein. Es nutzt einem dann leider die erhöhte Frauenquote nichts, wenn sich die Frauen verspäten. Also leider kein Julia Holter-Auftritt für Sounds & Books, denn während der Wartezeit beginnen denn auch schon The Sonics mit ihrem Gig im Zelt. Mit diesem Auftritt nimmt der Rolling Stone Weekender Fahrt auf. The Sonics veröffentlichten in den 60er Jahren drei Alben und lösten sich danach auf, Ende der Nuller-Jahre gab es eine Reunion. Bei den Sonics geht Spielfreude vor Perfektion, aber das Quintett rockt das Zelt. Mit Volldampf voraus stürzen sich die Sonics in eine turbulente Mischung aus Rock’n’Roll, Rhythm and Blues, Graragen-Rock und Beat. „Come On, Everybody“, „Money (That’s What I Want)“, „Lucille“ und sehr viele „Hey, hey, hey“-Rufe verleihen dem Rock’n’Roll der Sonics einen urigen und archaischen Touch. Kurze und knackige Rocksongs, mit Inbrunst vorgetragen. The Sonics als Überzeugungstäter.

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Kurzer Blick zurück in den Baltic-Festsaal, wo sich Nathaniel Rateliff mit seiner Begleitband The Night Sweats eingefunden hat. Der aus Missouri stammende Sänger und Gitarrist hat sich dem R&B und Southern-Swamp-Rock mit einer gehörigen Portion Soul verschworen. Zwei Gitarren, Orgel, Bass, Schlagzeug, Trompete und Saxophon bringen die Besucher mächtig ins Schwitzen, ein formidabler Auftritt, doch die Zeit drängt, im Zelt steht bereits die Band Boss Hog in den Startlöchern.

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Mit Boss Hog nimmt die Lautstärke im Zelt noch ein Dezibel zu. Die von John Spencer und seiner Ehefrau Cristina Martinez seit 1989 geführte Band lässt das Zelt mit einer wilden Mixtur aus Underground- und Alternative-Punk-Rock erzittern. Cristina Martinez ist omnipräsent, führt eine abgefahrene und ausgeflippte Show auf, springt, hüpft und tanzt, tigert über die Bühne, kokettiert mit dem Publikum, begibt sich eben dorthin und tanzt mit den Fans, schreit, gibt sich lasziv und provokant. Ihr Auftreten und die Interaktion mit John Spencer hinterlassen zwar durchaus einen poserhaften Eindruck, aber die griffigen Gitarrenrifs sowie das teilweise brachiale Spiel von Bass und Schlagzeug ergeben ein insgesamt stimmiges Bild. Laut, aber gut.

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Im vollbesetzten Witthüs geht es weiter mit Okkervil River. Die Band um Frontmann Will Sheff ist nach The Sonics und Boss Hog Balsam für die Ohren. Ihr verspielter Americana-Country-Folk-Pop ist von filigraner Art, leise und elegant. Will Sheff überzeugt als barmender Barde, seine Mitmusiker umkreisen dezent Sheffs Vocals, ein angenehmer Flow breitet sich im Withüs aus.

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Allein, mehr als die Hälfte des Okkervil River-Sets ist nicht möglich, im Zelt laufen bereits die letzten Vorbereitungen für den Haupt-Act der ersten Tages des Rolling Stone Weekenders, Dinosaur Jr. Die Veteranen des Alternative-Rock nehmen die Vorlage von Boss Hog dankend an und drehen die Lautstärkeregler noch ein Stück höher. Der Gesang von Gitarrengott J Mascis geht zwar im wüsten Krach völlig unter, aber egal. Die aufgetürmten Marshall-Boxen sprechen eine eindeutige Sprache. Der nicht zu bändige Bassist Lou Barlow bewirbt sich um eine Stelle bei der Muppets-Show als perfekte Ergänzung zum Tier und Drummer Murph erschlägt das Publikum mit seiner Bassdrum. Die viel gepriesene und durchaus vorhandene Melodieseligkeit von Dinosaur Jr. kommt reichlich zu kurz, sie taucht bei „Tiny“, der Single des neuen Albums Give A Glimpse Or What Yer Not am Horizont auf, aber ansonsten entfesselt das Trio einen fabulösen 90 minütigen Rock-Furor.

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