Die Alben des Jahres 2023 von Michael Thieme

Romy Mid Air Cover

Sounds & Books-Mitarbeiter Michael Thieme stellt seine Alben des Jahres 2023 vor

Auch in diesem Jahr kann ich nicht umhin mich zu beklagen, dass es mir zeitlich noch nicht mal ansatzweise möglich war in dem Ausmaß in faszinierende Klänge einzutauchen, der diesen gebührt – der Lohnarbeit sei dafür Dank. Dabei gab es solche zuhauf. Wie immer stellt diese Liste ohne auf- oder absteigende Wertigkeit die von mir bisher gefundenen Kleinode des fast vergangenen Jahres dar. Es gab sicherlich weitere, die mir verborgen blieben.

Romy: Mid Air

Völlig klar: An Sylvester wird die gesamte Nachbarschaft daran teilhaben müssen, was für eine geniale, „tongewordene Lebensbejahung“ Romy Madley Croft von The XX mit ihrem Solodebüt herausgehauen hat. Für mich persönlich das Partyalbum des Jahres, dicht gefolgt von – nein, merkwürdigerweise nicht von Róisín Murphy, sondern von

Futurebae: BLA

die mit Romy ihre Liebe zum Eurodance teilen mag, deren Clubsounds jedoch noch weit mehr Inspirationsquellen zulässt, darunter sogar Ska, Wave oder Rap. Dass das auch live hervorragend funktioniert und Futurebae liebt, was sie da tut, bewies sie auf ihrer kürzlich absolvierten Clubtour (Sounds & Books berichtete) – ich hoffe auf Nachschlag im neuen Jahr.

Ich gebe es zu: Seit dem „Free European Song Contest 2021“ und ihrer dortigen Darbietung von „Alles Helal“ fröne ich einem leichten Crush auf

Elif: Endlich tut es wieder weh,

der 2023 genährt wurde von diesem hoch emotionalen und dabei weitgehend kitschfreiem Album. Mit „Mein Babe“ enthält dieses Werk eine Großtat an abgeklärter Rachefantasie, musikalisch sparsam an der gezupften Gitarre illustriert und damit extrem eindrucksvoll. Bis auf das merkwürdige „Lonely“, das ich beim Hören nach wie vor wegskippen muss, enthält die Scheibe ausschließlich Knallerstücke, die für eine zurecht ausverkaufte Tour im April sorgten .

Überhaupt: Gitarren. Die spielen bei der Beschallung meines Lebens immer weniger eine tragende Rolle, es gab jedoch auch 2023 Alben, auf denen diese dominieren und die ich ins Herz schließen musste. Am wenigsten hatte ich im Vorfeld damit gerechnet, dass

The Gaslight Anthem: History Books 

auf dieser Liste auftauchen würden, aber holla: Der Vierer aus New Jersey, der Anfang der Zehner-Jahre Punk- und Heartlandrock genial zusammenbrachte und uns auf „The ’59 Sound“ Hymnen für die Ewigkeit bescherte, bevor er ausgebrannt verpuffte; kredenzt auf „History Books“ nicht nur die längst überfällige Zusammenarbeit im Studio mit dem „Boss“ Bruce Springsteen, sondern präsentiert sich reifer sowie weniger ungestüm, dabei aber noch genauso bewegend wie damals. Ich bin extrem gespannt auf die Live-Umsetzung im März.

Eine solche wird es von

Shining: Shining

wohl erstmal nicht geben: Niklas Kvarforth verschliss mit diesem Projekt, welches man dem depressiven oder gar suizidalem Black Metal zuordnen kann, über 25 Mitglieder; auf Fanforen wird davor gewarnt, mit ihm alleine abzuhängen. Promointerviews zum nunmehr elften Studioalbum gab er aus der Therapie, gut so. Bei dem formvollendeten Hassbrocken, den dieser Tonträger darstellt, kann das für ihn nur ein Gewinn sein. Für mich war dieses selbstbetitelte Album 2023 das passendste bei extrem schlechter Laune. Anlässe dafür gab es ja genug.

Trotz vermehrtem Black Metal-Einfluss kommen die folkigen

Hexvessel: Polar Veil 

an soviel Lebensverneinung nicht ran, zum Glück, eigentlich. Der passende esoterische Überbau verschafft hier Ablenkung und vielleicht sogar Hoffnung, es sei den Akteuren gegönnt. „Polar Veil“ markiert trotzdem einen Höhepunkt, nicht nur in der Diskografie dieses finnischen Projekts, sondern generell in der musikalischen Vita des umtriebigen Sängers Mat „Kvohst“ McNerney.

Wolvennest: The Dark Path To The Light

beackern spirituell ähnliche Baustellen, ersparen sich jedoch den Folk und erforschen einen sehr eigenen Pfad aus Krautrock, Psychedelic, Doom- sowie Black Metal. Eine weitere musikalische Perle von dem Kollektiv aus Belgien, welches bisher ausnahmslos auf Tonträger wie auch live überzeugte.

Melenas: Ahora 

Noch mehr Gitarren, diesmal weit fröhlicher: Melenas aus Pamplona/Spanien begeistern mich einmal mehr mit ihrem luftigen und dabei treibendem Gitarrensound, der inzwischen von Bass und Orgel gleichwertig unterstützt wird. 2024 auf Tour bei uns, passenderweise wenn es anfängt, draußen wärmer zu werden.

Gitarren bietet ebenso

Debby Friday: Good Luck,

Spiritualität ebenso. Zusätzlich noch Beats noch und nöcher sowie einen Einflussbereich von Punk bis Soul. Debby Friday liefert auf ihrem Debüt ein stimmiges Sammelsurium an unverbrauchten und mitreißenden Sounds sowie eine Sternstunde, die eigentlich auf allen Jahresendlisten lobend erwähnt sein müsste.

Kelela: Raven  

muss sich da weniger Sorgen machen, „Raven“ überzeugte in allen Redaktionen, in denen man Musik hört, die nicht ausschließlich von weißen Männern gemacht wird. Obwohl auch hier Edgar Froese seine Spuren hinterlassen hat. Hammeralbum und ganz nah dran an meinem Liebling des Jahres.

Hania Rani: Ghosts 

Eydis Evensen: The Light

Ebenso wie diese beiden Aufnahmen der Pianistinnen wie auch Komponistinnen aus Gdańsk/Polen (Rani) sowie Blönduósbær/Island (Evensen), die von herausragenden Livedarbieteungen 2023 eskortiert wurden. Atemberaubende Neoklassik mit Annäherungen an Pop (Rani) und Kirchenmusik (Evensen), beides unfassbar schön. Ebenso wie

Hillary Woods: Acts Of Light

Mariusz Duda: Afraid

Keine Neoklassik, allerdings faszinierende Instrumentalmusik der experimentellen Künstlerin aus Irland sowie dem durch Riverside bekannten Multiinstrumentalisten aus Polen.

Bevor ich hier noch einige Alben kommentarlos aufzähle, die 2023 meine Welt ein wenig schöner machten, komme ich doch nicht umhin einen Favoriten zu benennen, den die Statistik von last.fm ganz klar als einen solchen aufweist: Es ist

Verifiziert: adhs

Als ich das erste Mal den Opener „Suzuki Swift“ vernahm, wusste ich nicht, dass dies ein Auto ist und verstand generell recht wenig vom vornehmlich geflüsterten Text. Ein paar faszinierte Durchläufe später nahm das Werk ebenso lyrisch in mir Gestalt an, emotional hatte es mich ab Sekunde 1, auch wenn ich aufgrund meines Alters sicher nicht zur Zielgruppe gehöre (daher die anfänglichen Verständnisschwierigkeiten). Skeptische Blicke empfingen mich demzufolge von den Veri-Ultras, als ich zwecks Berichterstattung und voller Vorfreude auf exzellente Live-Musik die Frankfurter Brotfabrik betrat. Egal. Soviel Musik wurde 2023 leider nicht von mir gehört – dafür lief diese Platte in Dauerschleife. Aus Gründen.

Weitere unverzichtbare Alben des Jahres 2023:

(Beitragsbild: Romy: „Mid Air“, Albumcover)

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