Peter Richter: 89/90 – Roman

Eine denkwürdige Deutschstunde

von Gérard Otremba

Als die deutsche Nationalmannschaft ausgerechnet im Jahre 1990 zum dritten Mal nach `54 und `74 Fußball-Weltmeister wurde, ausgerechnet also im Vereinigungsjahr, als das Land den Nationalstolz wiederentdeckte und sich um den letzten Verstand trank, da schwenkten bei den Feierlichkeiten nach dem 1:0-Sieg gegen Argentinien sogar im beschaulichen Worms einige Gehirntote diverse Reichkriegsflaggen. Die Freude über den sportlichen Erfolg hatte schnell einen mehr als üblen gesellschafts-politischen Beigeschmack. Die Erinnerungen an die erlebten Schicksalsjahre Deutschlands werden beim Lesen von Peter Richters Roman 89/90 sofort wieder wach. Im Vergleich zu den Zuständen in Dresden des Jahres 1990, war Worms natürlich eine Kuschelzone. Die Schlachten, die sich jugendliche, baseballschwingende Neo-Nazis mit den von ihnen als „Zecken“ verunglimpften weniger national denkenden Menschen in Dresden der Wendezeit lieferten, war einer der Preise einer viel zu schnellen und wenig durchdachten Einheit.

Wenige Monate später folgten Hoyerswerda, Lichtenhagen, Mölln und Solingen. Der in Dresden geborene und aufgewachsene Peter Richter beschreibt in seinem neuen Roman 89/90 ehrlich und schonungslos seinen letzten Sommer in der DDR und ähnlich wie Clemens Meyer in Als wir träumten thematisiert Richter auch die Schattenseiten der sogenannten „Wiedervereinigung“. Es dauert einige Seiten, bis man sich an Richters Schreibstil gewöhnt, viele gutgemeinte und hilfreiche Fußnoten zur DDR-Begriffserklärung unterbrechen zunächst einen wünschenswerten Lesefluss, doch entwickelt sich 89/90 nach und nach zu einer zwischen Witz und Melancholie changierenden und höchst unterhaltsamen Lektüre. Peter Richter erlebte das letzte Jahr der DDR als 16-jähriger Pennäler, dessen Jugend sich nicht wesentlich von seine Altersgenossen im Westen unterschied. Eher gelangweilt von der kommunistischen SED-Führung, half ihm und seinen Freunden die Rockmusik weiter, je abgefahrener, desto besser (Der Running-Gag über die Einfälle zur Namensgebung einer eigenen Band ist schlicht grandios). Und die Mädels waren ebenfalls interessanter als Schule und andere vorgegebenen Pflichten. Peter Richter dehnt den Roman-Begriff weit aus. Vielmehr liest sich 89/90 wie ein autobiographischer Bericht.

„Es war der letzte Sommer, in dem zumindest am Anfang noch die Cliquen gleichzeitig dort standen, in friedlicher Koexistenz sozusagen, aber das änderte sich an dem Tag, an dem der X dem Y eine Zigarette nicht geben wollte, denn Y. war ein Skinhead und X. sagte, ein Fascho kriegt von ihm keine Zigarette, sondern höchstens was aufs Maul.“

Das Buch ist nichts für DDR-Hasser, in reine Nostalgie verfällt Richter aber nicht. Der Journalist und Schriftsteller bringt unbequeme Wahrheiten und Probleme auf den Tisch, die im Zuge des Einheitswahns gerne unter den Tisch gekehrt werden. Eine absolut lesenswerte Deutschstunde.

Peter Richter: 89/90, Luchterhand Verlag, Hardcover, 978-3-630-87462-3, 19,99 €.

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