The Smile: Wall of Eyes – die Story zum Album

The Smile credit Frank Lebon

Kaum ein Album des neuen Jahres wurde mit solcher Spannung erwartet wie das zweite von The Smile. Treten Thom Yorke und Jonny Greenwood damit endgültig aus dem Radiohead-Schatten?

von Werner Herpell

Millionen Radiohead-Verehrer, die nach (dem Schwanengesang-Album?) „A Moon Shaped Pool“ von 2016 zunehmend an einer Zukunft für ihre Lieblingsband zweifelten, hatten in den vergangenen Jahren zwei Optionen: Entweder der großen Zeit dieser genialen englischen Neo-Artrocker hinterhertrauern – oder sich auf spannende Entwicklungen der fünf großartigen Musiker einlassen. Neben überzeugenden Solo-Werken und Soundtrack-Arbeiten von Thom Yorke, Jonny Greenwood, Ed O’Brien und Philip Selway schob sich bald ein neues Projekt der beiden erstgenannten und gewiss begabtesten Radiohead-Herren in den Fokus – ihr Trio The Smile mit dem

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hochversierten Londoner Jazz-Drummer Tom Skinner (Sons Of Kemet).

Alle Erwartungen übertroffen

The Smile Wall Of Eyes Cover XL Recordings

Die spannende Frage lautete: Würden The Smile den makellosen Radiohead-Katalog seit den 90ern ergänzen, sogar sinnvoll erweitern – oder doch nur eine Fußnote bleiben? Wenn man jetzt die acht Tracks von „Wall Of Eyes“ – einem der mit größter Spannung erwarteten Alben des Jahres – in voller Pracht hört, bleibt nur ein Urteil: Der Sänger/Pianist Yorke, der Multiinstrumentalist/Arrangeur Greenwood und der Schlagzeuger Skinner „match Radiohead for challenges, surprises and beauty“, wie der bekannte Rockmusik-Autor Wyndham Wallace im neuen „Uncut“ hymnisch schreibt.

The Smile haben also alle Erwartungen übertroffen, der Band (ja, jetzt ist es wirklich eine!) gelingt hier ein Meisterwerk, das man selbst nach dem starken Debüt „A Light For Attracting Attention“ (2022) nicht erhoffen konnte. Die Vorboten ließen freilich schon Großes erwarten: „Bending Hectic“, ein achtminütiges Prog-Monster mit zunächst zirpenden Gitarren, mächtigen Bässen, Yorkes waidwunden Vocals, Greenwoods erhebendem Streicher-Arrangement – und einem unfassbaren Metal-Doom-Finish; das Titelstück „Wall Of Eyes“ mit einem sanft wiegendem, trügerischen Bossa-Nova-Rhythmusgeflecht und bedrohlichen Untertönen; „Friend Of A Friend“, geprägt von flehendem Falsett-Gesang, wunderschönem Piano und nervös-jazzigem Getrommel, ehe wieder die herrlichen Strings des London Contemporary Orchestra den Hörer überwältigen.

Ein oft ungemütliches Album zum Staunen

Wer nun befürchtet, damit könnten The Smile ihr Pulver für „Wall Of Eyes“ verschossen haben, darf sich beruhigt zurücklehnen und staunen.

„Teleharmonic“ (Track 2 nach dem Opener/Titelstück) brilliert mit wiederum jazzigen Klängen von Bass und Drums, Yorkes träumerischer Stimme und folkig-zarten Flötentönen. Eine Oase der pastoralen Ruhe in einem ansonsten durchaus fordernden, auch mal lauten und experimentellen Album, das seine volle Wirkkraft womöglich erst nach mehreren Durchläufen entfaltet. „Read The Room“ macht’s dem Hörer weniger gemütlich mit dengelnden Gitarren, munter wechselnden Rhythmen, unaufdringlichen Progrock-Tendenzen. „Under Our Pillows“ ist ähnlich unberechenbar und unbehaglich. Yorke singt so tief, wie er es eben auch hervorragend kann. Der von The Smile ohnehin gern gepflegte Afrobeat ist hier nicht fern, nach drei Minuten kommt Krautrock hinzu. Am Ende wieder Streicher und Noise-Schleifen. Puh – ein ziemlicher (formidabler) Brocken Wahnsinn.

Etwas Ruhe kehrt mit „I Quit“ ein, das mit seiner verspielten Bass-Linie ebensogut auf einem der elektronischeren Radiohead-Alben wie „Kid A“ (2000) oder „In Rainbows“ (2007), aber auch auf „A Moon Shaped Pool“ einen Ehrenplatz hätte finden können. (Wie überhaupt die um viele reizvolle Details erweiterten Parallelen von The Smile zur „Hauptband“ immer auffälliger werden.) Was der Filmmusiker Greenwood hier – ähnlich wie in seinen Hollywood-Scores – an Feinstarbeit aus den Londoner Orchestermusikern herauskitzelt, ist bewundernswert und erschütternd zugleich. 

The Smile: Gegenwart und Zukunft nach Radiohead?

Nach dem Streicher- und Heavy-Gitarren-Crescendo von „Bending Hectic“ (einem der sensationellsten musikalischen Gänsehaut-Momente seit langem) findet das Album mit „You Know Me“ ein halbwegs versöhnliches Ende – obwohl auch hier etwas Verstörendes hinter den zitternden Vocals und der fragilen Klavier-Melodie lauert. Yorke/Greenwood/Skinner haben „Wall Of Eyes“ mit drei brillanten Singles ohne großes Bohei und ohne viele erhellende Interviews angeteasert – und dann einfach weiter „geliefert“. So souverän kann man das auch in einer so überhitzten wie unsicheren Zeit für die Musikbranche machen. 

Ob allerdings Radiohead irgendwann doch noch zurückkehren (wie von Drummer Selway kürzlich in einem Interview angedeutet), steht nach dem künstlerisch extrem eindrucksvollen Werk von The Smile wohl erst recht in den Sternen. Warum denn auch, könnten sich die drei The-Smile-Abenteurer fragen. Sie haben sich für „Wall Of Eyes“ schließlich schon von Dauerproduzent Nigel Godrich verabschiedet und diesen Job Sam Petts-Davies übertragen. The Smile scheint die Gegenwart und Zukunft nach Radiohead zu sein. Freuen wir uns also nun erst einmal auf die Deutschland-Shows des Trios in Hamburg (08.06.2024), Köln (09.06.2024), Berlin (11.06.2024), Frankfurt/Main (20.08.2024) und München (21.08.2024).

Das Album „Wall Of Eyes“ von The Smile erscheint am 26.01.2024 bei XL Recordings. (Beitragsbild von Frank Lebon)

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