Reeperbahn Festival 2023 – Die Review

Reeperbahn Festival 2023 Arlo Parks Stage Operettenhaus by Gérard Otremba Sounds & Books

Von Arlo Parks bis The Pretenders, von Maria Basel bis Annie Hamilton. Bekannte und zu entdeckende Acts auf dem Reeperbahn Festival 2023

Text und Fotos von Gérard Otremba und Niko Schmuck

Die achtzehnte Ausgabe der Reeperbahn Festivals ging heute Nacht zu Ende. Rund 49.000 Besucher erlebten ein internationales Programm mit 475 Konzerten von 400 Acts aus über 40 Ländern. Hamburg-St. Pauli war für vier Tage die musikalische Hochburg des Landes und Sounds & Books mittendrin.    

Bereits der erste Reeperbahn-Festival-Tag hatte mit dem offiziellen Opening-Konzert von Arlo Parks einen der aufstrebendsten Acts der letzten fünf Jahre zu bieten. Die britische Songwriterin vermag wie kaum eine andere, Soul, R&B und  Pop zu verbinden. Mal cool, mal funky und groovy, häufig verträumt, geschmeidig und gelegentlich auch mal rockig. So präsentierte die 23-Jährige mit ihrer vierköpfigen Band (Gitarre, Bass, Keyboard, Schlagzeug) Songs aus ihren beiden Alben „Collapsed In Sunbeams“ und „My Soft Machine“ im Stage Operettenhaus, von „Blades“ über „I’m Sorry“ bis „Black Dog“. Arlo Parks war stets in Bewegung, nutzte den freien Raum zu ihrer weiter hinten platzierten Band weidlich und strahlte eine enorme Bühnenpräsenz aus. Man kann nur hoffen, dass Parks uns weiterhin mit solchen wunderbaren Songs beglückt und ihre Karriere weiter fortschreiten möge.

C’est Karma, Dylan Cartlidge und Kuoko

Im Grünen Jäger eröffnete den musikalischen Reigen vorher bereits Karma Catena, alias C’est Karma. Die aus Luxemburg stammende Songwriterin bot einen extravaganten, von Björk inspirierten 30-Minuten-Auftritt. Electro-Art-Pop mit Hang zum Theatralischen. Irgendwie faszinierend. Indes zeigte ein eine der coolsten Latzhosen ever tragender Dylan Cartlidge im Nochtspeicher, wie Neo-Soul und R&B ineinandergreifen. Ein  gutgelaunter Brite mit einer Riesenausstrahlung, da hätte man gerne noch länger gelauscht. Synthpop zum Verlieben hingegen gab es im Häkken von der Hamburger Künstlerin Kuoko, zu hören, die mit ebenfalls lässigen Klamotten das Publikum verzauberte.

Sexyness und überbordende Energie im Nochtspeicher

Im Mojo Club ging es Schlag auf Schlag mit aufstrebenden Künstlern wie Blumengarten, Levin Liam und Ennio, die für ein textsicheres junges Publikum performten. Und während Orbit im Bahnhof Pauli ihr Versprechen hielten und das Publikum mit zum Träumen ins All nahmen, geriet der Auftritt von Zaho de Sagazan im Nochtspeicher zu einer schweißtreibenden Angelegenheit. Verstärkt von zwei für pulsierende Beats sorgende Herren am Schlagwerk, Synthie und Geräten mit sehr vielen Drehknöpfen, sorgte die französische Musikerin für viel Bewegung unter den Fans, die ihrer Tanz-Aufforderung gerne nachkamen. Zwei Balladen lockerten den in die Beine schießenden Synthie-Elektro-Wave-Pop auf, der Rest ein einziger Rausch. Im Mittelpunkt Zaho de Sagazan, die das Publikum mit Sexyness und überbordender Energie in ihren Bann schlug. Das saß, so kurz vor Mitternacht.

Paula Paula, Dump Babes und Marissa Burwell

Sehr früh waren schon sehr viele Menschen am Donnerstag beim Reeperbahn Festival unterwegs. So füllte sich auch das Häkken um 15.30 Uhr zum Gig von Paula Paula zur Freude aller Beteiligten („ordentlich was los“, meinte Frontfrau Marlène Colle). Lohnt sich ja auch, der Musik der Band von Sängerin und Songwriterin Marlène Colle, bestehend aus Kristina Koropecki am Cello, Joda Foerster am Schlagzeug, Gitarrist Daniel Freitag und Bassist Gisbert zu Knyphausen,  zuzuhören. Auf dem Programm standen die Songs des dieses Jahr veröffentlichten Debütalbums „Schade kaputt“. Indie-Songwriter-Pop der gehobenen Klasse, der in Ausnahmen wie in „Kaputtes Gerät“ schon mal NDW-Rock-Punkzüge trug. Und ein eingedeutschtes Cover von „The Look“ von Roxette begeisterte die Fans nicht minder.

Ein Besuch im Canada House nebenan im Uwe hat stets seinen Reiz. Dort trumpften zunächst Dump Babes aus Saskatchewan mit ihrem aus Country und Blues gespeisten Indie-Rock-Pop auf, bevor die ebenfalls aus Saskatchewan stammende Marissa Burwell mit ihrer dreiköpfigen Herrenband angenehme Folk-Rock-Klänge anstimmte. Die dem Pop nicht abhold waren und manchmal sogar in Richtung Fleetwood Mac tendierten.

Der N-Joy-Bus und Geheimtipps

Um Bands und Künstler doch noch zu sehen, die man aufgrund der Parallelität der Ereignisse in den Clubs verpasst, gehört beim Reeperbahn Festival der N-Joy-Bus am Spielbudenplatz zu einem beliebten Treffpunkt. 10-15 Minuten Spielzeit pro Act im Kleinformat. Dort brachte die französische Sängerin Woody mit ihrer Adele-Stimme die in der Nähe befindlichen schiefen Türme ins Wanken und anschließend rap-rockte K.Flay im Goofy-T-Shirt-Schlabberlook, dass manchem an den Sitzplätzen in der ersten Reihe wohl das Getränkeglas fast vom Tisch fiel. Alljährlich dient das Reeperbahn Festival auch Journalisten zum Entdecken bis dato unbekannter Musiker. So geschehen bei mir im Headcrash, wo die niederländische Formation Loupe den Indie-Pop-Rock der 90er-Jahre ins Hier und Jetzt transportierte, sowie im Backyard des Molotow, wo man bei melodieverliebtem, filigranem und auch hymnischem Indie-Pop des Schweizer Quintetts Soft Loft die Seele baumeln lassen konnte. Zwei nunmehr von Sounds & Books zu Geheimtipps ernannte Bands.

Das Reeperbahn Festival mit The Last Dinner Party

Ein Geheimtipp sind The Last Dinner Party nicht mehr wirklich. Vielmehr eine der gehyptesten Bands aus dem UK. Dementsprechend war das Uebel & Gefährlich (U&G) auch gemütlich voll, als die jungen Damen aus London um 21.40 Uhr die Bühne betraten. Im Mittelpunkt der Gruppe stand Sängerin Abigail Morris, die mit ihren ganzen Charme in die Waagschale warf, mit den Fans und den Melodien spielte, tanzte und sich elegant und gekonnt in Szene setzte. Mit ihrem roten Kleid erinnerte Morris an den Auftritt von Kate Bush 1978 bei Bios Bahnhof. Wie es mit Frau Bush weiter ging ist hinlänglich bekannt. Die Songs von Last Dinner Party sind catchy, keine Frage. Manche neigen etwas zum Bombast, aber „Sinner“ und das ganz besonders das abschließende „Nothing Matters“ sind Ohrwürmer. Man darf auf das Debütalbum gespannt sein. Eine große Karriere scheint unausweichlich. Nächster Halt in Hamburg am 05.12.2023 als Support von Hozier in der Sporthalle.

Loveless, Anchor-Gewinnerin Ichiko Aoba und Grandbrothers

Ebenfalls im U&G gastierte Julian Comeau, alias Loveless. Seine Power und unbändige Energie rissen das Publikum sofort mit, eine ausgelassene Party war die Folge. Kontrastprogram indes im Gruenspan. Die Japanerin Ichiko Aoba entführte die Gäste mit Gitarre und Keyboard in bezaubernde Traumwelten. Das kam so gut an, dass Ichiko Aoba dieses Jahr den mit 20.000 Euro dotierten Anchor-Musikpreis des Reeperbahn Festivals zugesprochen bekam. Zu einem weiteren Höhepunkt entwickelte sich der Auftritt der Grandbrothers in der Großen Freiheit 36. Die elektroakustischen Soundteppiche von Erol Sarp und Lukas Vogel gerieten im kongenialen Zusammenspiel der beiden Klangbrüder zu einem Triumph.

Waterbaby, Uzi Freyja und Grandson

Kendra Egerbladh, aka Waterbaby, wiederum verzauberte durch ihr warme Stimme und ihr sanftes Timbre und brachte mit ihrer Band das Gruenspan zum Grooven. Die 26-jährige Französin Uzi Freyja eroberte wiederum die Herzen der Besucher der kleinen Prinzenbar im Sturm und begeisterte auf engstem Raum mit authentischem Rap. Erst vor kurzem auf den Straßen von Nantes entdeckt, startet Freyja jetzt selbstbewusst durch. Das hat Grandson schon hinter sich: Jordan Edward positioniert sich klar mit seinen politischen Texten gegen das US amerikanische Establishment und legte in der prall gefüllten Großen Freiheit 36 eine irre Show hin, ließ seine Wut raus, vereinte sie mit friedlichem Moshpit und bot eine hammergeile Show.   

Sam Himself und Brockhoff beim Reeperbahn Festival 2023

Dass Sam Himself am Ende seines Gigs auf der XL-Bühne auf dem  Spielbudenplatz „Dancing In The Dark“ (in einer entschleunigten Version) von Bruce Springsteen coverte, verwunderte nicht. Schließlich bewegt sich der Schweizer Musiker auf seinem zweiten Album „Never Let Me Go“ im Dunstkreis vom Boss und The War On Drugs. Da lag die Huldigung nahe. Der charismatische Songwriter wird vielleicht nie solch große Arenen wie der amerikanische Superstar füllen, aber für die Schweizer  Ausgabe eines Thees Uhlmann sollte es auf jeden Fall reichen. Und das wäre doch schon mal was. Besucht auf jeden Fall seine Konzerte und kauft seine Alben. Das macht Laune.

Wie schon am Vortag (und aus selbigen Gründen) war ein Kurztrip beim N-Joy-Bus unausweichlich, denn die Hamburger Indie-Pop-Rockmusikerin Brockhoff (siehe auch den heutigen Song des Tages) gab sich dort in Duo-Besetzung die Ehre. Zweite EP ist am Freitag erschienen und spätestens mit einem Debütalbum im Rücken sollte Brockhoff Hamburgs neuer großer Exportschlager im Indie-Pop-Rock-Sektor werden.

Alina Amuri auf dem Reeperbahn Festival

Auf dem Weg ins Mojo zu Temples erneut Halt an der XL-Bühne auf den anderen Seite des Spielbudenplatzes gemacht. Musik aus der Schweiz hatte dort ihren großen Tag. Die in Kinshasa, Kongo, geborene und in unserem südlichen Nachbarland aufgewachsene Alina Amuri entzückte die anwesenden Menschen mit einem angejazzten Neo-Soul und Namen wie Nina Simone oder Sade schwirrten einem durch den Kopf. Sehr schöne Musik.

Psychedelic-Rock-Pop mit Temples

Die gab es im Mojo Club ebenfalls. Das britische Quartett Temples, das seit seinem 2014 veröffentlichten Debüt „Sun Structures“ die Fahne des Psychedelic-Rock-Pop hochhält, füllte den Kellerclub bis zum Anschlag und spielte sich routiniert und intensiv durch ein Set mit Songs aus seinen vier Alben – zuletzt erschien im April „Exotico“. Herrlich aus der Zeit gefallen und doch zeitlos erklangen neue Stücke wie „Cicada“ und „Oval Stones“ und ältere wie „Certainty“, „Hot Motion“,  „Keep In The Dark“ sowie „Shelter Song“.

popNRW Showcase im Sommersalon

Im Sommersalon luden indes Listenrecords und popNRW zu einem gemeinsamen Showcase ein. Aus Wuppertal stammt der Songwriter Fabian Till, der sich als Tiflis Transit einen Namen zu machen gedenkt, auf dem Reeperbahn Festival in Quartett-Größe unterwegs. Und mindestens alle, die auf Steely Dan und Songwriter-Pop der Seventies stehen, sollten sich Tiflis Transit merken. Da ist ein Könner am Werk. Zu Recht vom Publikum abgefeiert. Genauso wie anschließend die Kölner Indie-Rock-Pop-Band Easy Easy, die den erneut mit Einlassstopp belegten Sommersalon ganz im Sinne von britischen Vorbildern wie Bloc Party einheizten.

The Hives beim Reeperbahn Festival

Einheizen ist ein gutes Stichwort. Denn dafür sind The Hives berühmt und berüchtigt. Der punkgeschulte Rock’n’Roll der Schweden bietet sich natürlich an, die Menge zum Ausflippen zu bringen. Nach elf Jahren Pause kehrten sie im August mit dem neuen Album „The Death Of Randy Fitzsimmons“ und Sänger Pelle Almqvist bleibt live eine ausgemachte Rampensau, wie sich alle, die es in die pickepackevolle Große Freiheit 36 geschafft haben, überzeugen konnten. Neues wie „Stick Up“ und „Smoke & Mirrors“ und Klassiker wie „Walk Idiot Walk“ und „Hate To Say I Told You So“ zündeten und brachten die Freiheit zum Beben. Der Abriss des dritten Tages beim Reeperbahn Festival 2023.

Maria Basel und der Regen

Etwas Pech hatte Maria Basel bei ihrem Kurzauftritt am Samstag am Bus des Hamburger Verkehrs-Verbundes (HVV) am Spielbudenplatz. Denn just nach dem ersten Song geriet sie in den einzigen Regenslot des Tages. Um das Equipment zu retten und eine Fortführung zu ermöglichen, war eine kleine Umbaupause nötig, doch tapfer harrten die Besucher im Regen aus, der tatsächlich exakt im Zeitraum des Gigs vom Himmel fiel. Solidarisch verließ die aus Wuppertal stammende Songwriterin, auf die wir bereits mit einem Song des Tages hingewiesen haben und deren Debütalbum „Bloom“ am 13.10.2023 erscheint, dann sogar kurz ihren Platz hinterm Keyboard, um vor der Bühne im Regen zu singen. Eine überaus sympathische Erscheinung mit filigranen Songwriter-Indie-Pop-Songs mit Elektro- und R&B-Einschlag. Im Februar und März nächsten Jahres auf Deutschlandtour.

Blood Red Shoes im Gruenspan

Weniger filigran ging es erwartungsgemäß bei den Blood Red Shoes im Gruenspan zu. Gewohnt spielfreudig und vorwärtspeitschend stürmten Laura-Mary Carter (Gesang, Gitarre) und Steven Ansell (Drums, Gesang) durch ihr Alternativ-Indie-Rock-Set. Auch schon seit 15 Jahren (Debüt „Box Of Secrets“ erschien 2008) versorgen uns die Briten regelmäßig mit krachenden Gitarrenriffs und donnernden Drums. Action pur und ein Set mit „Light It Up“, „Don’t Ask“ und „I Wish I Was Someone Better“ ist ein gutes Set. So war es auch beim Reeperbahn Festival.

Geheimtipp Annie Hamilton

Nicht ganz so deftig ging es im Indra weiter. Flankiert von ihrer dreiköpfigen Band an Bass, Gitarre und Schlagzeug spielte Annie Hamilton ein beherztes Konzert. Die australische Musikerin überzeugte nicht nur mit ihrem straighten und melodiösen Indie-Power-Pop-Rock, sondern schenkte dem Publikum im legendären Hamburger Club (Beatles!) immer wieder ein entwaffnendes und hübsches Lächeln. Doppelte Gewinnerin des Reeperbahn Festivals und ein weiterer S&B-Geheimtipp.

The Pretenders beim Reeperbahn Festival

Vom Geheimtipp zur Legende. Als solche muss man Chrissie Hynde und ihre Band The Pretenders bezeichnen. Sie für das Reeperbahn Festival zu buchen, war ein echter Coup der Veranstalter. Hynde ist mittlerweile 72 Jahre, ihre Stimme seit Bandgründung 1978 offensichtlich nicht gealtert und die Melange aus Rock, Punk, Country und Pop war immer noch top. Zur Routine verkam beim Konzert in der Großen Freiheit 36 nichts. Alles wirkte vital und machte Band und Fans viel Spaß. Mit „You Can’t Hurt A Fool“ vom 2020-Album „Hate For Sale“ stand auch eine sehnsüchtige Ballade auf dem Programm, im Zugabenblock dann hintereinander weg die Hits „Don’t Get Me Wrong“, „Back On The Chain Gang“ und „Stop Your Sobbing“, ein Kinks-Cover und die erste Pretenders-Single von 1979. Mit diesen nostalgischen Gefühlen konnte man befriedigt das Reeperbahn Festival 2023 beenden.  

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