Reeperbahn Festival 2022 – Die Review

Reeperbahn Festival 2022 Dylan Village Spiegelzelt by Gérard Otremba Sounds & Books

Nach zwei von Beschränkungen geprägten Pandemie-Ausgaben fand das Reeperbahn Festival 2022 wieder in teilweise proppenvollen Locations statt

41 000 musikinteressierte Menschen besuchten das Reeperbahn Festival 2022, wo 400 Konzerte von Bands und Künstlern aus rund 40 Ländern auf dem Programm standen. Der Anteil an Acts mit weiblicher Beteiligung betrug 55% im Musikprogramm. Noch höher fällt diese Quote im Beitrag von Sounds & Books aus. Einerseits, weil diese Acts die Auftrittsmöglichkeit vom Veranstalter erhielten, andererseits, weil wir auf fast alle der von uns besuchten Bands und Künstlerinnen in irgendeiner Form bereits hingewiesen, aber noch nicht live erlebt haben. Der Anchor Award wurde dieses Jahr an die britische Indie-Pop-Band Cassia verliehen, die wir 2021 mit einem Song des Tages bedacht haben. Herzlichen Glückwunsch hierzu. Und nun unser Überblick über das

Reeperbahn Festival 2022

Der erste Tag beim Reeperbahn Festival 2022 begann für Sounds & Books im Grünen Jäger, wo das Hamburger Backseat-Label & PR sein fünfjähriges Bestehen feierte und zunächst Ian Fisher in Begleitung des Pedal-Steel-Gitarristen Richard Case spielte. Fisher vertrat kurzfristig die Band Noth, die krankheitsbedingt nicht auftreten konnte. Der seit über eine Dekade in Europa lebende Amerikaner, dessen letztes Album „American Standards“ wir an dieser Stelle besprachen, ist ein Garant in Sachen Americana-Singer-Songwriter-County-Folk und präsentierte u.a. die Live-Premiere seiner brandaktuellen Single „How Far“. Das neue Album „Burnt Tongue“ soll Anfang 2023 erscheinen. Gute Nachrichten aus dem Hause Backseat.

Im Mojo Jazz Café trat anschließend die wunderbare Juli Gilde auf. Und das in voller Bandbesetzung (Keyboard, Gitarre, Schlagzeug, Bass) auf sehr kleinem Raum. Wir hatten die junge Berlinerin bereits mit zwei Songs des Tages im Programm sie erfüllte die in sie geweckte Live-Hoffnungen mit diesem Gig auf dem Reeperbahn Festival 2022 voll und ganz. Melancholischer, beschwingter und überaus liebenswerter Songwriter-Folk-Pop mit feinen deutschen Texten, achtet bitte auf den Namen Juli  Gilde. Denn wenn jemand ein Konzert mit einem so großartigen Song wie „Stadtrand“ beginnt, dem stehen alle Türen offen.

Philine Sonny und The Mysterines beim Reeperbahn Festival 2022

Auf einen gemütlichen Sessel im Imperial Theater freut man sich alljährlich beim Reeperbahn Festival. Dort war die für den Anchor Award nominierte Philine Sonny an der Reihe, die wir schon mit einem Song des Tages bedachten. Stimmlich nach einer Erkrankung noch leicht gehandicapt, stellte die ebenfalls noch sehr junge Nachwuchsmusikerin mit einer dreiköpfigen Herrenband Material aus ihre im März veröffentlichten EP „Lose Yourself“. Mit hymnisch-wehmütigen Indie-Rock-Songs und einer bewegenden, dezent instrumentierten Singer-Songwriter-Ballade („Oh Brother“) begeisterte Philine Sonny, die offen ihre demnächst anstehende Therapie ansprach, die Besucher im Imperial-Theater. Und wer Bruce Springsteens „Dancing In The Dark“ covert, hat sowieso schon gewonnen.

Im rappelvollen Molotow gastierte anschließend das angesagte britische Quartett The Mysterines. Frontfrau Lia Metcalfe sowie Callum Thompson, George Favager und Paul Crilly an Gitarre, Bass und Schlagzeug bringen mit den Songs ihres Debüts „Reeling“ zweifellos neuen Schwung in das Alternative-Rock-Genre. Es krachte ordentlich im Molotow, das muss man der Liverpooler Band lassen.

Roller Derby im Molotow Backyard

Den Ausklang des ersten Tages beim Reeperbahn Festival 2022 bildete die von Sounds & Books entdeckte und vollkommen zu Recht hofierte Hamburger Indie-Dream-Pop-Band Roller Derby. Das Trio um Sängerin und Keyboarderin Philine Meyer – live zum Quintett angewachsen – zeigte ihr Können auf der Bühne des Molotow-Backyard und sofort schwelgte oder tanzte man zu den wunderprächtigen Melodien ihrer bisher veröffentlichten Songs, die wir alle an dieser Stelle vorgestellten haben, von „Only You“ und „Starry-Eyed“ über „Something True“ bis „Flying High“. Herrliche Musik einer aufstrebenden Band. Sounds & Books bleibt ihr gewogen. Und hoffentlich viele andere Menschen bald ebenfalls.       

Fieh im Knust am zweiten Tag beim Reeperbahn Festival 2022

Den perfekten Einstieg in den zweiten Tag des RBF 2022 bot die norwegische Band Fieh im Knust. Das achtköpfige Future-Soul-Kollektiv begeisterte das zahlreich erschienene Publikum mit lustigen Choreographien, mitreißenden und edlen Songs wie „Grendehus Funkadelic“ und „Telephone Girl“ aus ihrem im März veröffentlichten Album „In The Sun In The Rain“ sowie der umwerfenden Bühnenpräsenz von Frontfrau Sofie Tollefsbøl, die neben ihres Gesangs auch mit Gestik und Tanz zu überzeugen wusste. In der kommenden Woche folgen Auftritte in Berlin (27.09.), Köln (28.09.) und Erfurt (30.09.). Sollten musikbegeisterte Menschen in der Nähe nicht verpassen.

The Dears im Molotow Backyard

Im Molotow-Backyard dann gleich das nächste Highlight mit The Dears aus Kanada. Die Mitte der 90er-Jahre in Montreal gegründete Indie-Rock-Band kommt zwar nicht über den Status des ewigen Geheimtipps hinaus, hatte aber einige unfassbar straighte, eingängige und tighte Songs im Repertoire. Wer das Quintett um den charismatischen Frontmann Murray Lightburn bisher immer noch nicht auf dem Radar hatte (so wie der Schreiber dieser Zeilen), der gehört nach diesem Gig sicherlich zur Fangemeinde.

Roller Derby im Häkken

Die von mir hiermit ausgerufene Roller-Derby-Mania ging anschließend im Häkken weiter. Wenn meine Hamburger Lieblingsband schon einen zweiten Slot beim Reeperbahn Festival 2022 erhält, dann kann ich mir den natürlich nicht entgehen lassen. Und weil der Sound im Häkken noch etwas besser war als am Vortag im Molotow-Backyard, der Club gemütlich voll, und die Band um die charmant singende Philine Meyer den Auftritt offensichtlich genauso genoss wie ihre Fans, war der Besuch mehr als lohnenswert. Und so phantastische Indie-Dream-Pop-Songs wie „Underwater“, „Can’t See You“, „Whatever Works“ oder „I Wish“ kann man sowieso nicht häufig genug hören.

Anaïs im Häkken

Im Häkken ließ Sounds & Books den Abend aufgrund eines Tipps des geschätzten Kollegen Ulrich Maurer (gästeliste.de) auch ausklingen. Denn im Anschluss an Roller Derby gastierte dort die Popmusikerin Anaïs. Die 22-Jährige hat im Juli ihre Debüt-EP „44“ veröffentlicht und verzauberte mit ihrer aparten Ausstrahlung sowie ihrem tanzbaren, mit Soul und R&B angereicherten, groovy Disco-Pop ein erneut angenehm volles Häkken. Trotz ihres Nachwuchsstatus zelebrierte Anaïs ihre von drei Mitmusikern begleitete Show wie eine längst etablierte Künstlerin. Und um Mitternacht spielte sie mit „You Make Me Mad“ in den Release-Tag ihrer eben dieser neuen Single. Besser konnte der Abend für Anaïs kaum laufen. Daumen hoch für diese sympathische Erscheinung.   

Dylan am dritten Tag beim Reeperbahn Festival 2022

Es waren nur 30 Minuten, aber die hatten es in sich. Die britische Musikerin Dylan – bürgerlich Natasha „Tash“ Woods –, deren Tracks „No Romeo“ und „Girl Of Your Dreams“ wir zu Songs des Tages gekürt haben,  rockte das Spiegelzelt im Festival-Village, dass es eine wahre Freude war. Dylan ist Anfang 20, hat bisher einige Singles und zwei EPs veröffentlicht, trat im Vorprogramm von Ed Sheeran auf und ist ein aufgehender Stern am Rock-Pop-Himmel. Jedenfalls steckt da unfassbar viel Potential in der jungen Künstlerin, die mit von Catchyness geprägten Power-Pop-Rock-Songs einen der mitreißendsten Auftritte beim Reeperbahn Festival 2022 ablieferte. Das war ein kaum zu toppender Auftakt des dritten RBF-Tages für Sounds & Books.

Cash Savage in der Molotow-SkyBar

Weiter ging es aber in der übervollen SkyBar des Molotow, wo Cash Savage sich die kleine Bühne mit ihrer sechsköpfigen Begleitband The Last Drinks teilte. Die australische Sängerin und Songwriterin mit der durchdringen, tiefen Stimme, deren 2018 verstorbener Onkel Conway Savage lange Jahre Pianist bei Nick Caves Bad Seeds war, legte einen fulminanten Indie-Rock-Ritt hin, wild, roh, bluesig und punkig. Nicht weniger begeisternd als Dylan, nur mit extrem anderen Mitteln.

Friedberg im Indra

Ähnlich voll war es beim anschließenden Friedberg-Auftritt im Indra. Das österreichisch-britische Quartett, das wir bereits mit drei Songs des Tages im Programm hatten, animierte mit ihrem popaffinen Indie-Rock, der sich gerne mal in psychedelische Gefilde wagt, am Ende sogar drei, vier junge Menschen zum Pogo. Die anderen Besucher waren nicht minder angetan von der Performance der Band um Frontfrau Anna F.

Ghostly Kisses im Imperial Theater

Nach drei gitarrenorientierten Acts stad mir der Sinn nach ruhigerer Musik. So fiel die Wahl auf das Imperial Theater, wo Margaux Sauvé, alias Ghostly Kisses, um 22.40 Uhr die Bühne betrat. Man ließ sich sehr schnell vom wunderschönen Electro-Indie-Folk der kanadischen Künstlerin verzaubern. Dezente Keyboard- und Gitarrenklänge sowie sanfte, teils tanzbare Beats und Sauvés entrück-innige Stimme entführten einen in magische Welten, fernab des Lärmpegels draußen auf der Reeperbahn. Und eine ergreifende Slowmotion-Version des Cranberries-Hits „Zombie“ führte das Trio auch noch auf. Puh, das war eine verdammt emotionale Kiste und die erste wirkliche Begegnung mit der Musik von Ghostly Kisses. Wird nicht die letzte gewesen sein.

Eee Gee in der Molotow-SkyBar

Eine kurze Stippvisite folgte bei Eee Gee in der Molotow-Skybar. Die aus Dänemark stammende Emma Grankvist spielte mit ihrer Band eine beseelte Version des Bee-Gees-Klassikers „More Than A Woman“ und vollführte ihre Interpretation des Indie-Pop zwischen großer Geste und melancholischer Intimität. Hingebungsvoll und graziös. Feine Sache, die Musik von Eee Gee.

Kiwi Jr. beim Reeperbahn Festival 2022

Im Backyard des Molotow ließ Sounds & Books den dritten Tag beim Reeperbahn Festival mit Kiwi Jr. ausklingen. Das kanadische Quartett hat im August sein neues Album „Chopper“ veröffentlicht und brachte mit seinem hochmelodiösen College-Indie-Schrammel-Rock die ersten Besucher-Reihen zum beschwingten Wett-Tanz. Ja, die lustigeren Strokes heißen mittlerwereile eindeutig Kiwi Jr.

Scotch & Water am vierten Tag beim Reeperbahn Festival 2022

2018 trat die Hamburger Indie-Band Scotch & Water bereits in ganz kleinen Locations beim Reeperbahn Festival auf. Vier Jahre später mit der Veröffentlichung ihres von uns an dieser Stelle rezensierten Debütalbums „Sirens“ füllte das Quartett um Sängerin Samira Christmann schon das Spiegelzelt im Festival-Village. Und das an einem Samstagnachmittag um 16.30 Uhr. Der kristallklare Indie-Pop-Rock mit Dream-Pop-Charakter und Jam-Passagen wurde zu Recht lautstark von den zahlreich erschienen Besuchern umjubelt. Die Melange aus zugänglichen und artifiziellen Melodien spricht für diese Band, die mit diesem Gig einen weiteren Meilenstein in ihrer Karriere zu verbuchen hat.

Fluppe mit Weltpremiere

Zeugen einer doppelten Weltpremiere wurden viele Unentwegte, die bei Nieselregen und Außentemperaturen von circa 13 Grad vor dem N-Joy-Bus am Spielbudenplatz ausharrten. Zum ersten Mal gab die Hamburger Band Fluppe ein Akustikkonzert und zum ersten Mal wurde sich lediglich von Sänger Joe Astray vertreten, der mit seiner Gitarre ein Mini-Set von drei songs spielte, darunter das von Sounds & Books als Song des Tages vorgestellte „Seerosenräuber“. Das neue Album „Boutique“ seiner Hamburger Indie-Rock-Pop-Band erscheint im Januar. Achtet bittet alle darauf.

Cosma Joy beim Reeperbahn Festival 2022

Im Nochtspeicher trat am letzten Tag des Reeperbahn Festivals 2022 mit Cosma Joy ein weiteres deutsches Songwriter-Talent auf, die mit ihr Können mit einer dreiköpfigen, sehr gut aufeinander eingestimmten Band ihr Können zeigte. Cosma Joy hat im März ihre von uns mit zwei Songs des Tages begleitete Debüt-EP „Boy Boredom“ herausgebracht und frönte einem mit souligen Indie-Dream-Pop mit sehr offenen Songstrukturen, mal groovy, mal liebreizend. Einige wundervolle Songs brachte die Studentin der Popakademie in Mannheim dem interessierten Publikum im Nochtspeicher zu Gehör. Als sie bei ihrem Solo-Gig eine Stunde vorher am N-Joy-Bus auf die Frage des Radiokollegen nach ihren musikalischen Einflüssen mit den Namen aus dem  elterlichen Plattenregal wie Bob Dylan und Joni Mitchell antwortete, hätte sie noch Jeff Buckley hinzufügen können.

Resi Reiner in der Nochtwache

Einen Stock tiefer in der Nochtwache gab es anschließend beim Auftritt von Resi Reiner zunächst große technische Probleme mit dem Keyboard, das noch kurzfristig ausgetauscht werden musste. Das war natürlich reichlich Pech für die österreichische Musikerin, die ihrem Konzert beim RBF so sehr entgegengefiebert hat. Aber manchmal muss eben etwas improvisieren bei einem Live-Event und nachdem alles geregelt war entwickelten sich noch angenehme vierzig Minuten mit einer sehr leise singenden Resi Reiner und entzückenden Songwriter-Pop-Songs wie den von Sounds & Books vorgestellten „Ich will nach Italien“ und „Tischtennis“ sowie einem Duett mit dem Hamburger Kollegen Herr D.K. bei „Angst vor der Stile“.

Kings Elliot im Häkken

Schwer emotional wurde es beim Konzert von Kings Elliot. Die in London lebende Schweizerin hat am 16.09. ihre EP „Bored Of The Circus“ veröffentlicht und sang sich durch das halbstündige Set mit so bewegenden Piano-Balladen über ihre inneren Dämonen, dass sie den vorletzten Song mit fließenden Tränen kurz unterbrechen musste. Zusätzlicher fetter Applaus von Seiten der aufmerksamen Fans half ihr bei der Fortführung dieses wohl für alle Anwesenden aufwühlenden Gigs.

Anna Erhard im Nochtspeicher

Zurück im Nochtspeicher beendete Anna Erhard das Reeperbahn Festival 2022 für Sounds & Books. In Begleitung von Bass und Schlagzeug spielte die in Berlin lebende Schweizerin ein einstündiges Set mit Liedern aus ihren beiden Solo-Alben „Short Cut“ und „Campsite“. Melancholischer Indie-Pop traf auf legeren DIY-Rock der Marke Courtney Barnett. Manchmal funky und groovy, manchmal arty und rhythmisch unberechenbar. Aber sehr immer ziemlich cool und lässig.

Sounds & Books freut sich auf das nächste, vom 20.-23.09.2023 stattfindende Reeperbahn Festival. Der Vorverkauf hat begonnen. (Beitragsbild: Dylan von Gérard Otremba)            

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