Karl Bartos live in Berlin 2024

Karl Bartos live Berlin 2024 Kino Babylon by Werner Herpell Sounds & Books

Der Gruselfilm-Klassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ beschäftigt den Ex-Kraftwerk-Musiker Karl Bartos schon lange. Jetzt führt er seinen neuen Score mit Erfolg live auf.

Text und Fotos von Werner Herpell

„Gehen Sie in ‚Caligari‘. Das Kino ist endlich erschaffen worden“ – mit diesen euphorischen Worten warb der französische Komponist Maurice Ravel (1875-1937) für den Besuch eines expressionistischen deutschen Stummfilms von Robert Wiene, der seit seiner Berliner Uraufführung am 26. Februar 1920 zum Horror-Klassiker wurde. Mehrfach gab es Vertonungen zu „Das Cabinet des Dr. Caligari“, dessen seinerzeit ganz sicher furchterregende Bilder reichlich kompositorische Anreize boten.

Der „Caligari“ wieder in Berlin

Der neueste Score stammt von Karl Bartos (71) – ebenfalls längst eine veritable Legende, eine Ikone der elektronischen Musik. Am 24.04.2024 führte das ehemalige Kraftwerk-Mitglied (zwischen 1974 und 1990) seine in 37 oft kurze Abschnitte gegliederte

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nachträgliche Soundtrack-Arbeit „The Cabinet Of Dr. Caligari“ nun live auf – in der deutschen Hauptstadt, wo vor gut 100 Jahren alles begann.

Zwei ausladende Pulte mit Keyboards und Kabeln stehen im Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz, nur wenige Lämpchen geben etwas Orientierung. Karl Bartos und sein musikalischer Partner Mathias Black nehmen unter erwartungsvoll-freundlichem Applaus ihre Plätze an den elektronischen Gerätschaften vor der großen Leinwand ein. Und ohne Vorgeplänkel geht’s los mit ihrem „Prolog“ zum Filmvorspann, der berühmte Darsteller wie Werner Krauß (Dr. Caligari), Conrad Veidt (Cesare) und Lil Dagover (Jane) ankündigt.

Hier und da auch Kraftwerk-Anklänge

Die rund 70-minütige Maschinen-Musik der beiden hochkonzentrierten Elektroniker ist abwechslungsreich und komplex, aber auch recht traditionell und meist eingängig. Zwar erwecken Bartos und Black an ihren Keyboards ganze Orchester künstlich zum Leben, es ertönen Kirchenorgeln wie bei Johann Sebastian Bach, immer wieder Rummelplatz-Walzer und in dramatischen Szenen Minimal-Music-Chöre wie von Philip Glass. Auch Kraftwerk-Anklänge sind hier und da herauszuhören.

Aber wirklich avantgardistisch wird es nie. Der Film über den titelgebenden irren Bösewicht (einen klassischen „Mad Professor“), seinen unfreiwilligen Mord-Handlanger und dessen arme Opfer spielt weiterhin die Hauptrolle dank seiner bis heute gültigen Faszinationskraft und bahnbrechenden Bühnenarchitektur-Ästhetik. Der neue „Caligari“-Score versucht nicht, dem experimentellen Kino-Kunstwerk „Caligari“ die Schau zu stehlen.

Doppelaufgabe für Bartos

Wie hätte der Film geklungen, wenn es bereits 1920 die Möglichkeit gegeben hätte, auf einer eigenen Tonspur den bewegten Bildern Klänge einzuschreiben? Und wie lässt sich diese Lücke heute schließen? Diese Fragen beschäftigten Karl Bartos, der nach seinen Kraftwerk-Jahren (den letzlich wichtigsten dieser international enorm einflussreichen Elektropop-Band) seit etwa 2005 darüber nachgrübelte – und schließlich schlüssige Antworten fand. „Sound-Design und erzählende Filmmusik“, so definierte der klassisch ausgebildete Künstler die Doppelaufgabe. 

In einem ersten Schritt schuf er eine neue Geräuschebene, ließ Türen quietschen, Papier knistern und murmelnde Stimmen, Schreie oder nervöses Gelächter durch die Stummfilm-Räume irrlichtern – als akustische Grundierung. Schwieriger wurde es bei der Musik selbst, bei den eigenständigen Themen. Zwar war bei der „Caligari“-Premiere 1920 eine Originalpartitur des Komponisten Giuseppe Becce aufgeführt worden, die aber ging irgendwann verloren. „Letztlich musste ich wohl allein einen Ansatz finden, Musik für den legendären Film zu komponieren“, so Bartos. Das Mittel seiner Wahl: der zeitlose Klang eines Sinfonieorchesters, synthetisch und elektronisch moduliert.

Für Karl Bartos ist der Film zeitlos

Die Live-Uraufführung des neuen, bereits auf Tonträger erschienenen Elektronik-Werks wurde vor einigen Wochen in der Alten Oper Frankfurt/Main heftig bejubelt. Auch in Berlin war das Publikum von Kino-Erlebnis und Musik-Event gleichermaßen beeindruckt. Dass der „Caligari“ den Menschen auch heute noch etwas zu sagen hat, davon ist Karl Bartos ohnehin fest überzeugt: „Es ist so eine Sache mit diesem Film. Egal wie oft man ihn sich anschaut, er bewahrt sein Geheimnis. Wer hier wahnsinnig ist und wer nicht, ist und bleibt eine Frage der Interpretation.“ 

Weitere Aufführungen in Berlin (25.04.2024), Dresden (26.04.2024), Hamburg (05./06.06.2024) und München (02.11.2024) sind bereits angekündigt. – Das Album „The Cabinet Of Dr. Caligari“ von Karl Bartos ist am 09.02.2024 auf CD, Vinyl und digital erschienen.

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