Willi Achten: Die wir liebten – Roman

Willi Achten Pressefoto Piper Verlag

In seinem bewegenden neuen Roman „Die wir liebten“ entführt Willi Achten die Leser in die niederrheinische Provinz der 70er-Jahre und gräbt ein dunkles Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte aus

Willi Achtens neuer Roman beginnt mit einer Prügelstrafe. In der Volksschule eines niederrheinischen Dorfes unweit Mönchengladbachs werden Schülerstreiche im Jahr 1971 von Rektor Honold noch mit Stockschlägen quittiert. Bereits das erste kurze Kapitel von „Die wir liebten“ stößt dem Leser bitter auf, für den geschlagenen, zwölfjährigen Roman ist es ein wegweisendes Vorspiel auf Ereignisse, die ihn wenige Jahre später ereilen werden. Roman ist der ein Jahr ältere Bruder des Ich-Erzählers Edgar, der die Geschichte aus der Erinnerung erzählt.

Der „Gnadenhof“

Ihr Vater betreibt eine Bäckerei, ihre Mutter führt einen Lottoladen. Das Unglück beginnt, als sich der Vater am Maifest in die Tierärztin verliebt, von zu Hause auszieht und die Mutter im Alkoholismus landet. Ein erneut von Roman initiierter Max-&-Moritz-Streich ruft die Jugendamtsvertreterin sowie den mit Nazivergangenheit ausgestatteten Polizisten Buhnke auf den Plan. Es droht das sich in Dorfnähe befindliche, von allen nur „Gnadenhof“ genannte Jugendheim. Dorthin werden Edgar und Roman schließlich per richterlichem Beschluss ein paar Jahre später verfrachtet, just als der Vater die Mutter in einer Entziehungsklinik besucht.

Die Hölle auf Erden

Willi Achten Die wir liebten Cover Piper Verlag

Für die mitten im Teenageralter stehenden Brüder beginnt im „Gnadenhof“ die Hölle auf Erden. Das Heim wird von gnadenlosen, teilweise klerikal angehauchten Ex-Nazis geführt, die bereits dreißig Jahre zuvor an selber Stelle für den Tod zahlreicher, geistig oder körperlich behinderter Kinder verantwortlich waren. Im „Gnadenhof“ ist die Zeit stehen geblieben, die nationalsozialistische Gesinnung findet ihre menschenmissachtende Fortsetzung. In seinem bewegenden Roman beschreibt Willi Achten eine Übergangsphase der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Während die Elterngeneration auf Dorffesten noch Heinos „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ goutiert, bevorzugen die Kinder die Musik von Bob Dylan und der Beatles. Die nicht aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit wirkt noch bis in weite Teile der Bevölkerung, auch außerhalb des Gnadenhofs. Der Geist der 68er-Begewegung, der ein anderes Leben in den 70er-Jahren in Deutschland ermöglichte, hat sich in der niederrheinischen Dorfebene in der ersten Hälfte der anschließenden Dekade noch nicht wirklich durchgesetzt.

Willi Achten erfindet eine aufsässige Figur

„Roman spielte den Song (Dylans ‚Knockin‘ On Heaven’s Door‘, Anm. d. Red.) manchmal eine halbe Stunde und länger. Immer wieder das gleiche Lied, das er aufdrehte und durch den Garten auf die Straße jagte, bis die Nachbarn vor der Tür standen und sich beschwerten, wütend und eskortiert von Zorn gegen Jugendliche, die ihr Haar lang trugen und sich auflehnten gegen den Mief aus Zucht und Ordnung, worauf Roman nur lächelte.“ Mit Roman erfindet Achten eine junge und aufsässige Figur, die die Aufbruchstimmung der Gegenkultur verkörpert und mit seinem ihn bewundernden Bruder im Heim die ganze Härte eines überkommenen Systems zu spüren bekommt. Letztendlich bleibt für beide nur die Flucht als rettende Möglichkeit sowie ein Leben in einer veränderten BRD.

Willi Achten und die poetische Kraft seines Erzählstils

Willi Achten hat mit „Die wir liebten“ eine Coming-of-Age-Geschichte der besonderen Güte geschrieben. Ein aufklärerisches Buch, ein politisch wichtiges Buch, ein erschütterndes Buch. Der beunruhigende Inhalt, die nahende Katastrophe wird von Achtens Stimme Edgar in einem häufig staunenswerten und ungläubigen Ton erzählt, der eine entfesselte poetische Kraft birgt. Und seine Beschreibung des legendären Spielstils der berühmten „Fohlen-Elf“ von Borussia Mönchengladbach, die dem Fußball den ästhetischen Zauber verlieh, lässt sicherlich nicht nur deren Fans ins Schwärmen geraten. Unverhohlen schwärmen muss man auf jeden Fall von diesem Roman. Ein Sounds & Books-Kandidat für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Willi Achten: „Die wir liebten“, Piper, Hardcover, 384 Seiten, 978-3-492-05994-7, 22 Euro. (Beitragsbild: Pressefoto)

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