Wie eine warme Decke legen sich die Lieder von Madrugada-Frontmann Sivert Høyem um seine Zuhörer. Das neue Album „On An Island“ liefert bewährt melancholischen Moll-Stoff.
von Werner Herpell
Es gibt zwei Möglichkeiten des Umgangs mit den Alben von Sivert Høyem. Entweder man lehnt die seinen Liedern innewohnende Gefühligkeit, die dunkle Wucht dieser Baritonstimme und die hallgetränkten Arrangements als zu pathetisch ab – oder man lässt sich fallen und umhüllen von den Moll-Melodien, die dann wärmen können wie eine Kuscheldecke im tiefsten Winter. Die schönere, genussvollere Methode ist natürlich die zweite. Dann passt auch „On An Island“ wieder perfekt zur Jahreszeit. Zumindest in Høyems Geburtsland Norwegen werden sich Rockfans dem träge-behaglichen Sog seiner neuen Songs in diesem Winter kaum verschließen – dort kletterte bisher praktisch jede Solo-Platte des Madrugada-Sängers
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seit „Moon Landing“ (2009) auf Platz eins der Charts.
Ein musikalisches Landschaftsgemälde
„On An Island“ ist ein Album wie ein skandinavisches Landschaftsgemälde – kein Wunder, entstand es doch während der Pandemie inmitten einer spektakulären Umgebung auf dem Breitengrad Nordsibiriens in einem alten Kirchenhaus im Fischerdorf Nyksund. Høyem – seit wenigen Tagen 48 Jahre alt – startete 2021 mit der Idee, zusammen mit dem Tontechniker Bjarne Stenslie etwas „Einfaches und Abgeklärtes“ zu schaffen, das einer Live- oder Demo-Aufnahme nahe kommt. Gesucht wurde ein großer Aufnahmeraum, am besten eine Kirche. Corona blockierte dann Pläne für die Toskana oder Südfrankreich – also blieb Høyem in der nordeuropäischen Heimat, in der er auch aufgewachsen war.
Geschadet hat es dem Sound des Albums sicher nicht – der ist großartig, vor allem die vollfetten Bariton-Gitarren im Klangbild des Titelstücks, von „In The Beginning“ oder „The Rust“ sind eine Klasse für sich. „Alles wurde in diesem einen Raum mit Mikrofonen aufgenommen, normalerweise als Live-Trio (Sivert, Christer Knutsen und Børge Fjordheim), nicht unähnlich der Art und Weise, wie Jazzaufnahmen gemacht werden“, so beschreibt der Høyem-Kenner Torgrim Eggen die Sessions im ganz hohen Norden. „Zufällige Geräusche, knarrende Bretter und mögliche Geisterbesuche sind allgegenwärtig.“ Gemischt wurde „On An Island“ vom legendären Produzenten Tchad Blake in dessen walisischem Studio.
Sivert Høyem und die Melancholie
Natürlich liegt auch in dieser Musik und in den Texten wieder eine gewisse Düsterkeit und Schwermut – typisch für Høyem, der sich selbst als Melancholiker bezeichnet. „Zu Edvard Munchs Zeiten war das eine diagnostizierbare Krankheit“, erinnert er an den ikonischen norwegischen Maler von „Der Schrei“. Wenn der Sänger in „Now You See Me, Now You Don´t“ am Ende bellt wie ein Hund und heult wie ein Wolf, fühlt man sich als Hörer selbst wie in einem expressionistischen Gemälde.
Überhaupt ist Høyem als Vokalist auf „On An Island“ wieder in Topform – kaum ein Anderer erinnert so überzeugend gleichermaßen an Nick Cave, Christian Kjellvander, Scott Walker und Richard Hawley. Ein weiteres Zitat dazu von Torgrim Eggen: „Sivert kann wie ein Engel singen, wenn er so inspiriert ist, wie der Teufel, wenn er es braucht. Die Grundlagen sind da, der Sauerstoff und der Wasserstoff der Rockmusik, das Kirchenhaus und die Blues-Hütte.“ Passt! Im April kann man das Phänomen Sivert Høyem live auf Tournee besichtigen: am 09.04.2024 in Berlin (Heimathafen Neukölln), am 10.04.2024 in Hamburg (Gruenspan), am 11.04.2024 in Dresden (Alter Schlachthof) und am 12.04.2024 in Köln (Kulturkirche).
Das Album „On An Island“ von Sivert Høyem erscheint am 26.01.2024 bei Warner Music. (Beitragsbild von Andreas Hornoff)