Hendrik Otremba: Ein Sprachjongleur, der mit den Konventionen bricht
Die Kryonik ist eine angewandte Technik zum Einfrieren der Menschen nach deren Tod. Um diesen Hoffnungsglauben an eine bessere Zukunft, auf den sich im realen Leben bereits über 250 Menschen weltweit eingelassen haben, dreht sich alles in Hendrik Otrembas neuem Roman „Kachelbads Erbe“. Zumeist in Russland sowie in den USA warten die Eingefrorenen auf ihr ungewisses Leben nach dem Tod und folgten dem Beispiel des amerikanischen Psychologieprofessors James Bedford, der 1967 als erster diesen Schritt wagte. Teilweise sind es nur Köpfe oder Gehirne, die auf ein neues Leben in ferner Zeit verharren und auf eine Methode hoffen, die ihnen eine Rückkehr ins wie auch immer dann geartete Leben ermöglicht.
Der postmortale Kälteschlaf der Kryonik
Das klingt spooky, aber Otremba macht aus der Realvorlage keinen apokalyptischen Science-Fiction-Thriller, sondern erzählt die Hintergrundgeschichten seiner Protagonisten, die aus diversen Gründen den kryonischen Weg einschlugen. Zu ihnen gehören die Kryonik-Wissenschaftlerin Yulia Lisovskiy, die bei der Tschernobyl-Katastrophe ihre große Liebe verlor und der vietnamesische Auftrags-Killer Hô Van Kim, dessen Eltern und die Zwillingsschwester an den Folgen des von den Amis im Vietnamkrieg eingesetzten Giftes „Agent Orange“ starben. Des Weiteren Amelia Morales, ein einstiger Popstar, der väterliche Gewalt, Entführung und Zwangsprostitution erlebte und sich auf die Suche nach Gott begibt, sowie Charlotte Weinberg, die Tochter deutscher „Zeitreisender“, wie sie glaubt, und der Schriftsteller Shabbatz Krekov, der in Mexiko in den 50er-Jahren bereits schon einmal starb und „das Ende der Menschheit erleben“ und „einem Anfang beiwohnen“ möchte. Sie alle stehen in Verbindung mit Kachelbad, der in den 80er-Jahren für das in Los Angeles stationierte Unternehmen „Exit U.S.“ arbeitet, die Kunden in den „postmortalen Kälteschlaf“ befördert und zu „kalten Mietern“ macht. Kachelbads eigene Vita erzählt Hendrik Otremba am Ende des Romans. Es ist eine tragische, heftige und bewegende, homosexuelle Liebesgeschichte, die die titelgebende Figur antreibt.
Hendrik Otremba gelingt ein großer Moment der deutschsprachigen Literatur
Mit wechselnden Erzählstimmen und Erzählformen bewegt sich der auch als Bildender Künstler und Sänger der Post-Punk-Band Messer auftretende Autor zwischen den Realwelten und Träumen seiner Protagonisten und behandelt neben der Kryonik weitere Themen wie AIDS, Heroinsucht und die Gabe des „Verschwindens“ oder „Unsichtbarwerdens“. Otrembas Stil wechselt zwischen schöngeistigen Passagen, Abschnitten, die an traditionelle amerikanische Kriminalliteratur erinnern, sowie Segmenten, in denen über Zeit und Raum philosophiert wird. Der 1984 geborene Otremba, der als Romancier vor zwei Jahren mit der Dystopie „Über uns der Schaum“ debütierte, hinterlegt in „Kachelbads Erbe“ ein nihilistisches Weltbild und erweist sich als ein Sprachjongleur, der mit Konventionen bricht, ohne sich im Experimentellen zu verlieren. Ein außerordentlich faszinierender, aufwühlender und sprachlich exzellent austarierter Roman, der die Qualität für zahlreiche Literaturpreise besitzt. Ein großer Moment der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.
Hendrik Otremba: „Kachelbads Erbe“, Hoffmann und Campe, Pappeinband, 432 Seiten, 978-3-455-00618-6, 24 € (Beitragsbild von Kat Kaufmann).
Der Autor des Artikels, Gérard Otremba, ist nicht verwandt oder verschwägert mit dem Romanautor Hendrik Otremba.