Ko(s)mische Schöpfung im Zeitverlauf
Ganz normale Songs lautet der Titel von Tom Liwas 25. Studioalbum, das wie bereits sein Vorgänger Umsonst & Draußen bei Grand Hotel van Cleef erscheint. Und wie man es von Liwa gewohnt ist, handelt es sich mitnichten um Singer-Songwriter-Kompositionen nach dem ‚Baukasten-Prinzip‘, sondern um die wache Beobachtung von Beziehungsgeflechten und das gütige Umarmen des Daseins in all seinen Facetten – gegossen in elf Stücke, die von Leichtigkeit und Tiefe getragen werden.
Liwa zeigt in Zusammenarbeit mit Produzent Tobias Levin und diversen Freunden, darunter Mitglieder der Flowerpornoes oder der wunderbare Ómar Gudjónsson von ADHD, großen musikalischen Ideenreichtum: schwebend-leichte, offene Gitarren, die durchgehende Rim Shots umschmeicheln („Schuld“), von Trompeten angeschossener Westernblues („Meistens“), gechillte Jazzstimmung („Ok“) oder rockige E-Gitarren mit Upbeat-Schlagzeug („Ego“) – all das und einiges mehr hat Ganz normale Songs zu bieten.
Liwa, der jüngst zum fünften Mal Vater geworden ist, gräbt mit seinen Texten, die von autobiografischen und kryptischen Momenten durchzogen sind, tief. Er verstrickt die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend mit Bestandsaufnahmen zum Hier und Jetzt, lässt Menschen aus verschiedenen Lebensphasen in seinen Erzählungen auftreten und spannt so den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart. Eine Art Lebenserzählung, die sich dem Hörer nie vollständig erschließt, weil sie – ganz liwaesk – das Offensichtliche mit dem Undurchsichtigen vermengt. So beschreibt Liwa in „Schuld“ den Befall seines noch kindlichen Körpers mit „allen gängigen Symptomen“, nachdem er „dem Monster“ sein Herz geschenkt hat, und die „Güte der Mutter“ sowie die „Geduld des Vaters“ beim Versuch, ihn durch „dreihundert Ampullen“ eines „Serums“ zu heilen. Es bleibt dem Hörer überlassen, was genau das Wesen dieses Monsters sein könnte und auch, ob der vorletzte Track „Unisex“ als ein Befreiungsschlag von der Medikation zu verstehen ist („Und was, wenn ich diese Medizin nicht mag / Weil sie zu unpräzise greift und zu stark“).
Neben „Schuld“ und „Unisex“ stechen weitere Stücke aus der insgesamt sehr starken Trackliste hervor: „Witz“ ist der bestürzte Blick auf eine Gesellschaft, in der die Schwachstellen eines Menschen erbarmungslos aufgedeckt werden („Das Erste, was sie merken / Ist das, was du versteckst“). Das sphärische und groovige „Leute“, in dem Mundharmonika und Stratocaster zum Einsatz kommen, ist Freunden gewidmet, die er liebevoll „meine Leute von der anderen Seite des Himmels“ nennt. Das schleppende Tempo, die kratzenden Effekte, der Hall, das Zittern und Vibrieren klingen wie Signale aus dem All, Lichtjahre entfernt und doch nah. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in „Dope“ durch das Zusammenspiel von drei Generationen abermals verwoben, und zwar in Gestalt von Liwas Vater („Er wollte nicht sterben / Und ich nicht erwachsen werden“) Liwas Sohn („Ich will nicht, dass er stirbt / Und nicht, dass er erwachsen wird“) und Liwa selbst („Ich will nicht sterben / Und nicht erwachsen werden“).
Liwa versteht es, das Leben als kosmische Schöpfung zu feiern und zu umarmen und seinen bisweilen schmerzhaften Stationen und den alltäglichen Dramen gleichzeitig ohne Bitterkeit zu begegnen. Das Älterwerden ist nicht aufzuhalten, der Tod eine Gewissheit. Und Liwa spricht in „Meistens“ mit profanen Worten das Absurde und Komische des Daseins als erleichternde Wahrheit aus („Manche Leute wissen alles besser / Sie glauben, sie haben / Die Wahrheit mit Löffeln gefressen / Erst bist du ihr dummer Junge / Dann hässlich und alt / Hast schlaflose Nächte / Wegen Erbe und Anwalt / Aber meistens wars geil / Meistens wars geil“). Ganz normale Songs ist ein warmherziges und von klugen Gedanken durchtränktes Album über das ganz normale Leben – manchmal unbegreiflich und groß wie der Kosmos und manchmal komisch wie ein Witz. Aber immer wunderschön.
„Ganz normale Songs“ von Tom Liwa ist am 13.04. bei Grand Hotel van Cleef / Indigo erschienen (Beitragsbild: Tom Liwa by Saskia Lippold).