The Rolling Stones: Hackney Diamonds

The Rolling Stones credit Mark Seliger

Ein großes, würdiges Alterswerk der Rolling Stones mit eigenen Top-Songs wird quasi seit Jahrzehnten herbeigesehnt. Ist „Hackney Diamonds“ endlich so gut?

von Werner Herpell

„One, two – one, two, three“, dann dieses unnachahmliche Gitarrenriff, nur Sekunden später diese ebenso unnachahmliche Stimme. Keef & Mick sind zurück in glorreicher Rolling-Stones-Manier, und man hat nie das Gefühl, hier einem fast 80-jährigen Gitarristen und einem Sänger zu lauschen, der die endgültige Schwelle zum Greisenalter kürzlich bereits überschritten hat. Ein Wahnsinn, was die beiden alten Straßenköter Richards und Jagger noch an rotzig-roher Energie und sprühender Spielfreude freisetzen können – schon im Opener „Angry“ zu ihrem neuen Album „Hackney Diamonds“.

Wie Stones-Manna vom Himmel

Was war nicht alles

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gemunkelt worden über das im Sommer angekündigte Comeback der vielleicht (schon allein wegen ihrer Lebensdauer von gut sechs Dekaden) größten Rock’n’Roll-Band aller Zeiten – auch mit bangem Blick auf eine womöglich gefährdete Reputation der Seniorentruppe. Die Platte fällt nun jedoch selbst für langjährige, frustrationstolerante Stones-Fans wie Manna vom Himmel. Müssen die sich doch nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ihre Helden zwar durchaus noch ein super Album hinkriegen (die fulminante Blues-Covers-Scheibe „Blue & Lonesome“ von 2016), aber eben keines mehr mit starkem eigenem Material.

Die Rolling Stones in Top-Form

The Rolling Stones Hackney Diamonds Cover Universal Music

Ganz klar: „Hackney Diamonds“ ist dieses Spätwerk, von dem die meisten Fans kaum noch zu träumen wagten. Ob es nun die beste Stones-Veröffentlichung seit über 40 Jahren, genauer: seit „Some Girls“ (1978) ist, wie viele Kritiker bereits jubeln, spielt da gar keine Rolle (zumal, wie ein kundiger Freund und treuer Fan der Band kürzlich anmerkte: „Ist auch nicht so schwer, bei dem Schrott, der seitdem kam.“). Nein, hier sind die britischen Urgesteine über ein Dutzend Songs in Topform zu bewundern – und das trotz des Todes von Gentleman-Drummer Charlie Watts im Jahr 2021 (er ist auf „Mess It Up“ und „Live By The Sword“ zu hören, musste dann aber, wie auch auf der Bühne, durch Steve Jordan ersetzt werden).

Kleines Track by track gefällig? Hier, dem zu feiernden Anlass angemessen, ein Schnelldurchlauf für „Hackney Diamonds“:

„Angry“ als Altherren-Fantasie

„Angry“ ist – wie eingangs beschrieben – ein Auftakt nach Maß, auch wenn das Video mit der sich halbnackt in einem Cabrio räkelnden Blondine („Euphoria“-Schauspielerin Sydney Sweeney) durchaus als zweifelhafte Altherren-Fantasie kritisiert werden darf. (Überhaupt muss man es nicht toll finden, wie Mick Jagger in einigen Texten, seinem hohen Alter zum Trotz, den dauergeilen Gockel gibt, aber andererseits: Wenn nicht er, wer dann?). Auch „Get Close“ ist so ein wüster Anmacher-Song, abermals vorangetrieben (gerettet?) von messerscharfen Gitarren (Keith Richards und Ron Wood), bollerndem Bass und brünftigem Saxofon. 

„Depending On You“ wirkt dagegen fast demütig – eine wunderbar juvenil gesungene Ballade (wie macht Jagger das bloß immer noch?). „Bite My Head Off“ klingt wie direkt aus den schmuddeligen 60er oder 70er Jahren rübergebeamt, mit all dem Gegröle und Gekeife des erneut phänomenalen Leadsängers on top. Und wer spielt hier den Bass? Beatles-Legende Sir Paul McCartney höchstpersönlich.

Rückkehr zum Country-Blues

Ein bisschen vorhersehbar erscheint der Refrain von „Whole Wide World“ – nur solides Mittelmaß, dieser Track. Mit „Dreamy Skies“ streifen die Stones ein Genre, dem sie schon früher gelegentlich zugetan waren – den rudimentären Country-Blues mit Slide-Gitarre, Mundharmonika und Kneipenklavier. Großartig. „Mess It Up“ ist wieder eher Malen nach Zahlen – aber selbst in mediokren Stücken wie diesem begeistern zumindest die wuchtige Performance der Band und Jaggers engagierte Vocals.

Womit wir beim Höhepunkt des Albums wären: „Live By The Sword“ geht dermaßen ab mit Watts‘ Schlagzeuger-Goodbye und Elton Johns Boogie-Piano, dass es den Atem raubt. Wohl tatsächlich eine der größten Stones-Leistungen seit gefühlten Ewigkeiten. „Driving Me Too Hard“ ist ein feiner Midtempo-Song, die Ballade „Tell Me Straight“ wird dann von Keith Richards gesungen – und man weiß ja, wie charmant-erratisch sich das anhört. 

The Rolling Stones: Alles, was sie groß macht

Der grandiose, gut siebenminütige Southern-Soul-Song „Sweet Sounds Of Heaven“ ist ein weiteres eindrucksvolles Highlight, hier steuert Lady Gaga neben einem völlig entfesselten Jagger ebenso inbrünstigen Gospel-Gesang bei und Stevie Wonder Keyboards/Piano. Mit „Rolling Stone Blues“ geht das Album zu Ende – ein Muddy-Waters-Song, der dieser Band einst ihren Namen gab, den sie aber vorher nie coverte. Ein würdiger Abschluss.

„Hackney Diamonds“ klinge „wie die Summe aller Dinge, die die Stones groß machen“, urteilte Will Hodgkinson, immerhin Chef-Musikkritiker der altehrwürdigen Londoner „Times“ (um nur eine von vielen Lobeshymnen dieser Tage zu erwähnen). Recht hat er. Man darf die Beatles den Rolling Stones immer vorgezogen haben, wie der Schreiber dieser Review – und muss die überragende Klasse einer unerwartet sensationellen Comeback-Platte von Jagger, Richards, Wood & Co. dennoch aufs Höchste preisen. Hut ab!

Das Album „Hackney Diamonds“ von den Rolling Stones erscheint am 20.10.2023 bei Universal Music. (Beitragsbild-Credit: Mark Seliger)

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