Nach mehreren sehr erfolgreichen Erzählbänden und dem 2015 erschienenen Roman Aller Liebe Anfang hat Judith Hermann nun einen zweiten Roman vorgelegt, Daheim. Er ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.
So vielschichtig der Roman, so einfach die Handlung: Eine Frau Mitte vierzig beginnt nach dem Ende ihrer Ehe und dem Auszug der Tochter aus der gemeinsamen Wohnung ein neues Leben an der norddeutschen Küste. Sie zieht in ein kleines, einsam gelegenes Haus und verdient ihr Geld damit, ihrem Bruder in seiner Gaststätte zu helfen. Und ihre Hilfe kommt zur rechten Zeit, denn der Bruder ist heillos verstrickt in eine unglückliche Liebesbeziehung mit der sonderbaren Kindfrau Nike. Zu diesem Figurenensemble gesellen sich noch die Künstlerin Mimi, eine Nachbarin, die zur engen Vertrauten wird, und Arild, Mimis Bruder, der allein einen Bauernhof mit riesiger Schweinezucht betreibt.
Zwischen Rückbesinnung und Aufbruch
Im Grunde beschreibt der Roman die beständige Pendel- und Suchbewegung zwischen Rückbesinnung und Aufbruch; er beginnt mit einer dreißig Jahre zurückliegenden Erinnerung an einen Wendepunkt im Leben der jungen Frau, an den Moment – wie es im Klappentext heißt –, in dem sich das Leben teilt, in dem die Jugend endet und etwas Neues, noch Ungreifbares beginnt. Ein älterer Mann, der mit seiner kleinen Zaubershow auf der MS Aurora die Welt bereist, bietet ihr einen Job in der Nummer der ‚Zersägten Frau‘ an. Tatsächlich steigt sie auch einmal in diesen Kasten – und verändert wieder heraus; diese Erfahrung, vage und ungreifbar, wird zur Ausgangsszene des Romans.
Dreißig Jahre später steht sie erneut an einem Wendepunkt, erneut teilt sich das Leben vor ihr: in die Vergangenheit und die Gegenwart. Die Familie, deren Teil sie war, geht auseinander: Die Tochter löst sich aus der Vorstellung eines bürgerlichen Lebens, sie bricht die Schule ab und macht sich auf die Reise. Otis, ihr geschiedener Mann, bleibt zurück in seinem Archiv, einer vor Jahrzehnten von ihm angelegten Sammlung von Gegenständen aller Art, zwischen denen er ein immer bescheideneres Leben lebt.
Spuren
So ist das zentrale Thema des Romans die Erinnerung, oder genauer die Frage: Was bleibt vom Leben eines Menschen, welche Spuren hinterlässt er und wie lassen sie sich lesen, wenn sie im Laufe der Zeit zu verwischen, unlesbar zu werden drohen. Solche Spuren zu sichern, also gleichsam einen exorbitanten Erinnerungsspeicher anzulegen: dieser Aufgabe hat sich Otis in einer Weise verschrieben, die der Selbstaufopferung gleichkommt. In der ständigen Angst vor der beständigen Projektion einer weltumspannenden Katastrophe, in der Angst vor dem Ende von allem, zieht sich Otis immer mehr zurück. Unfähig, diesen Ort zu verlassen, beginnt er in den Räumen seines Archivs zu vegetieren. Von der dennoch engen Verbundenheit der Erzählerin zu Otis berichten die Briefe, die sie miteinander wechseln.
Wo ihr Vater sein Leben mit dem Horten von Dingen beschwert, da gibt die Tochter ihren Besitz auf, sie zieht hinaus in das Abenteuer, tritt die Reise an, die ihre Mutter vor langer Zeit nicht angetreten hat. Und doch ist Anns Reise im Grunde nichts als eine Bewegung im Raum, die sich in bloße Koordinaten aufzulösen droht. Geteilt werden nicht mehr Bilder von Orten, Reiseziele oder Erfahrungen, geteilt werden Bildausschnitte ohne Kontext, sich fortwährend verändernde Koordinaten einer Bewegung, die nur sich selbst zum Ziel zu haben scheint. „Ihre [Anns] Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht mehr vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt.“ Ann, so scheint es, will alle Spuren verwischen.
Hat Judith Hermann einen feministischen Roman geschrieben?
Nach der Lektüre stellt sich die Frage, ob es sich mit Daheim um einen feministischen Roman handelt (wenn man einmal unterstellt, man wisse, was das sein soll). Zweifellos rückt er die Perspektiven von Frauen in den Fokus (in erster Linie die der Erzählerin, Mimis und Anns); zweifellos erscheinen die beiden zentralen Frauenfiguren des Romans – im Gegensatz zu den männlichen – als diejenigen, die tiefer innerer Wandlungsprozesse fähig sind. Allein dies macht bereits einen Teil der Spannung aus, die zwischen den Figuren greifbar wird, lässt sie sich anziehen und abstoßen, voreinander fliehen und aneinander festhalten. Ihre Worte, ihre Gesten sind einfach, doch sie sind eingelassen in atmosphärische Landschaftsbeschreibungen, die norddeutsche Küstenlandschaft mit ihrem weiten Himmel und den sich ausdehnenden Feldern legt sich über alles und wird bisweilen zur Spiegelung individuellen Empfindens oder dessen, was sich zwischen zwei Menschen ereignet:
„Wir fahren zurück ins Dorf, aber eigentlich fühlt es sich an, als kämen wir von ganz woanders her und als führen wir ganz woanders hin. Arild nimmt den Weg am Deich entlang, in der Dunkelheit leuchten die Schafe, getuscht vom Strahl der Scheinwerfer, wie Mondkälber auf, weiß, nackt und bedeutsam, von universeller Friedlichkeit. Am Horizont flackert ein fahles Wetterleuchten, der Himmel ist Blei und Silber, wir fahren schweigend über so etwas wie den Grat der Welt. Arild raucht. Ich nehme ihm die Zigarette aus der Hand, ziehe ein einziges Mal und gebe sie ihm zurück.“
Judith Hermann und die Vergangenheit von Schuld und Verdrängung
Mimi will ihre Freundin in „Wehrhaftigkeit“ üben, will sie bei sich behalten und sie gleichzeitig ziehen lassen; sie ist es auch, durch die die Erzählerin von dem bei den Dorfbewohnern verankerten Mythos der Nixe erfährt, der, einmal eingefangen und an Land gebracht, ein schreckliches Schicksal widerfährt. Sie wird von Männern gefangengenommen, geschändet, getötet und aus Scham wieder dem Meer übergeben. Doch dieser Mythos steht im Roman für mehr als eine – irgendwie unheimliche, irgendwie nicht auflösbare – Vergangenheit von Schuld und Verdrängung. Darüber hinaus ist dieser Mythos das pars pro toto einer langen Geschichte der Unterdrückung der Frau, die in die Gegenwart projiziert wird, nämlich in die Figur der Nike.
Auch das Ende des Romans ließe sich als Versuch der Selbstbefreiung – wenn nicht ‚der Frau‘, so doch der Protagonistin – deuten. Allerdings, und das macht die Vielschichtigkeit des Romans aus, wird gerade am Schluss die Perspektive der Frau mit der eines Mannes (Arild) konfrontiert.
Die zersägte Frau
Der Kasten (des Zauberers), Leitmotiv des Romans, steht nicht nur als Chiffre für einen einschneidenden Abschnitt im Leben der Erzählerin, an den sie sich selbst erst viele Jahre später wieder erinnert. Ebenso symbolisiert er die Unterdrückung der Frau, die Erfahrung der Frau, zum Objekt männlichen Handelns degradiert zu werden. „Und einen Moment später dachte ich, ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf. Vielleicht im Herzen. Mein Herz wäre in zwei Hälften geteilt, ich war da, und ich war ganz woanders. An einem anderen Ort, sehr weit weg.“ Darüber hinaus also scheint der Kasten ein Bild zu sein für die existentielle Grundbedingung, in die sich der Mensch zu fügen hat, die Zerrissenheit, die er erfährt in dem Moment, da er zum Bewusstsein seiner selbst gelangt.
Das Unheimliche
Das Unheimliche (die sich immer wieder einstellende Atmosphäre des Unheimlichen) steht im engen Zusammenhang mit dem Motiv des Kastens: das Tier, das im Haus der Erzählerin herumgeistert, soll darin gefangen werden. Dabei ist der Kasten ambivalent: Er soll dem unheimlichen Treiben im Haus ein Ende setzen und ist doch selbst der Ursprung des Unheimlichen, der Ursprung einer Art Selbstteilung der Ich-Erzählerin, und damit der Beginn einer Geschichte, deren Spuren gesichert werden müssen. Von dieser Ausgangsszene kursieren im Roman zwei verschiedene Versionen: Zunächst begegnen wir der Schilderung durch die Erzählerin, später dann der Korrektur dieser Erinnerung durch Otis. Das Erzählen, die Erinnerung bieten keine verlässliche Basis mehr, auch das trägt zur Atmosphäre des Unheimlichen bei, die der Roman unaufdringlich und auf meisterhafte Weise hervortreten lässt.
Judith Hermann stellt ihre Kunst unter Beweis
Ein weiteres Mal also stellt Judith Hermann mit Daheim ihre Kunst unter Beweis, komplexe Figuren und deren Beziehungen in nur wenigen Worten lebendig werden zu lassen. Wir nehmen Teil an vielfachen Annäherungsprozessen, dennoch bleibt Vieles offen und ungesagt und das Schicksal der Erzählerin in der Schwebe. Ohne jemals plakativ oder eindimensional zu werden, fokussiert sie weibliche Perspektiven auf Unterdrückung und Selbstbestimmung. Ein wunderbarer Roman, für den der Autorin der Preis der Leipziger Buchmesse sehr zu wünschen wäre.
Judith Hermann: Daheim, Roman, S. Fischer 2021, Hardcover, 192 Seiten, 978-3-10-397035-7, 21 Euro. (Beitragsbild von Gaby Gerster)
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