„Edinburgh Fringe“: Live-Musik zum Niederknien

Morf Edinburgh Fringe 2023 by Werner Herpell

Bei der „Fringe“ wird Edinburgh zur riesigen Bühne. Ein Bummel über das weltgrößte Kultur-Festival – mit tollen musikalischen Entdeckungen in den Clubs und auf den Straßen.

Text und Fotos von Werner Herpell

Na klar, es spielen auch Stars wie Alison Goldfrapp, John Cale, Primal Scream, Boygenius oder Anoushka Shankar während der „Fringe“ – also dem Edinburgh International Festival, das jedes Jahr rund drei August-Wochen lang die prachtvolle schottische Hauptstadt noch interessanter, liebenswerter und weltoffener macht. Aber am Ende prägen sich doch viel stärker die Überraschungen ein, die man in kleineren Venues und Clubs erlebt. Oder auf den quirligen Straßen von Edinburgh, die eine riesige Bühne für Talente aus Pop, Rock und Jazz, aus Theater, Kleinkunst, Tanz und Artistik bieten.

Edinburgh Fringe mit Musik von Morf, Malachy und Nathan Misischi

Beispielsweise Morf. Oder Malachy. Oder Nathan Misischi. Nie gehört? Kein Wunder – alle drei sind „Street Performer“, die sich bei der Fringe 2023 tagtäglich vor (im besten Falle minütlich anwachsendem und wohlwollendem) Publikum die Kehle wund singen und den Hintern abspielen, im fairen Wettbewerb um die Laufkundschaft des größten Kultur-Festivals der Welt.

Morf – bürgerlich John Chalice aus Melbourne – hat eine super Stimme und spielt seine Gitarre virtuos im Sitzen, sie liegt bei ihm auf den Oberschenkeln. Weil es wegen seiner schwachen Hände nicht anders ging, wie er auf der berühmten Royal Mile von Edinburgh am Sonntagmittag (27.08.2023) launig erzählt. „Aber ich wollte halt unbedingt Gitarrist werden.“ Überhaupt hat Morf viele hübsch ironische Geschichten parat, die er zwischen Covers (Springsteen, Clapton, U2) und tolle eigene Kompositionen einstreut. Etwa dass er mal in Dublin bei den Stadion-Folkrockern Mumford & Sons plötzlich „aus Versehen“ auf der Bühne stand und dort auch tatsächlich eines ihrer Lieder singen durfte, aber bis heute leider kein Star wurde…

Ein extrem netter „Loser“

Danach spielt der Australier einem weiteren Song mit diesen unfassbaren Sound-Effekten auf seiner abgeschabten Akustischen, warnt zwischendurch fürsorglich vor einem vorbeirumpelnden Doppeldecker-Bus („Bisher ist noch keiner meiner Zuhörer überfahren worden, das soll bitte so bleiben“) und verkauft mit herzlichem Dankeschön ein paar selbstproduzierte CDs. Falls Morf mit jetzt 32 Jahren ein „Loser“ des harten Musik-Business sein sollte, dann zumindest ein extrem netter.

Nein, dieser John Chalice ist eigentlich einer der wahren Festival-Helden. Denn Straßen-Performer wie er schaffen es, die ohnehin sehr musik-affine Schotten-Metropole für einige Wochen jenseits all der Hochkultur (inklusive vornehmer Klassik-Konzerte in der Usher Hall und internationaler Militärmusik vor dem weltbekannten Edinburgh Castle) mit viel bodenständiger Energie aufzuladen. Die historisch hochdramatische, würdevolle Hauptstadt verdoppelt zur Fringe ihre Einwohnerzahl von normalerweise gut 500 000 Menschen – nicht nur zahllose Touristen, sondern auch Tausende Künstler kommen dann zusätzlich herein.

Die All-Star-Band der Straßenmusik beim Edinburgh Fringe

Etwa der Gitarrist und Singer-Songwriter Malachy (wie Morf von „Down Under“), Gitarrist Bartek aus Polen, Geigerin Shiki aus Japan, der Engländer Luke an einem ziemlich wackeligen Piano auf Rädern, der Neuseeländer Henry am blökenden Didgeridoo und der geheimnisvolle „Journey-Man“ an der dritten Gitarre. Zu sechst bilden sie am vorletzten Festival-Abend (27.08.2023) eine kunterbunte All-Star-Band der aktuellen Fringe-Straßenmusik. 

Die Performance mit Malachys Rocksongs und Balladen ist mitreißend, das Publikum tobt und steht am Ende brav Schlange für eine frisch signierte „Drifter“-CD des blonden Australiers. „Dann bis zur nächsten Fringe“, sagt Malachy ein bisschen wehmütig zum Abschied, für ihn geht es bald auf raueren Pflastern in Tschechien und Nordirland weiter. Ganz ähnlich – total erschöpft und doch irgendwie traurig – ergeht es am Schlusstag (28.08.2023) auch Sean Rogan und Nathan Misischi aus Dublin, die als Folkpop-Duo Stray Melody mit keltisch angehauchtem Gitarren-Sound und perfekten Harmony-Vocals ebenfalls mächtig abgeräumt haben.

Typischer Folk im Royal Oak

Dass Edinburgh eine traditionelle Folk-Stadt ist und Schottland eine historische Folk-Region, kann man in vielen kleinen Clubs der Hauptstadt immer noch gut spüren. Beispielsweise im Royal Oak, einer legendären Kellerkneipe mit Spuk-Faktor, in der regelmäßig (natürlich auch während der Fringe) der famose Singer-Songwriter und Akustikgitarrist Simon Kempston auftritt.

Kempston ist ein weitgereister Musiker mit mehreren CD-Veröffentlichungen, der im Kontakt zu seinen Zuhörern daheim den harten schottischen Dialekt nie verleugnet. Ohne jede technische Verstärkung singt und spielt der sanfte Troubador am Montag (28.08.2023) auch vor kleinem Publikum seine schönen, oft melancholischen Lieder. Songs wie „Never The Bride“ oder das politische „Laissez-faire Economy“ hätten eine breite Wirkung verdient, aber letztlich wird Kempston wohl ein hoch respektabler Roots-Musiker in der Brit-Folk-Nische bleiben.

Becky Sikasa ist auf dem Sprung

Ganz so nah bei den Wurzeln ist Becky Sikasa schon länger nicht mehr. Die Sängerin hat nach ihrer Anfangszeit mit dem (laut „The Scotsman“ exzellenten) Duo Lunir nun auch solo Erfolg, sie wird beim Edinburgh International Book Festival am Samstagabend (26.08.2023) als eine der wortmächtigsten jungen Musikerinnen Schottlands vorgestellt. Mit einfühlsamen Texten, bezaubernden Soul-Jazz-Songs (nachzuhören auf www.beckysikasa.bandcamp.com/music), einer warmen, flexiblen Stimme und charismatischer Bühnen-Performance ist Sikasa auf dem Sprung zum Indiepop-Star.

Nach ihrem umjubelten Kurzauftritt in der Wee Red Bar im Uni-Viertel der schottischen Hauptstadt lädt die Neo-Soul-Musikerin für Anfang November zu einem Headliner-Konzert in Edinburghs Summerhall ein. Im zunächst auf Englisch geführten Gespräch überrascht sie anschließend akzentfrei mit dem Angebot: „Wir können übrigens auch gern Deutsch reden.“ Des Rätsels Lösung: Becky Sikasa wuchs am Rhein auf und zog erst später nach Schottland, wo sie in Edinburgh Popmusik studierte. Der WDR vereinnahmte sie daher nicht ganz zu Unrecht als „Kölner Singer-Songwriterin und Multiinstrumentalistin“.

Klasse-Jazz mit Colin Steele

Eindeutig Schotte ist indes Colin Steele, und zugleich einer der bekanntesten Jazz-Musiker Großbritanniens. Auf der Fringe präsentiert der 55-jährige Trompeter ein Festivalprogramm mit Klassikern von Dizzy Gillespie und Charlie Parker. Von diesen „Gründungsvätern des modernen Jazz“ werde er mit seinem Quintett „Greatest Hits“ spielen, kündigt Steele an. Eine Stunde lang gibt es am Sonntagabend (27.08.2023) im kleinen, feinen Club „The Jazz Bar“ auf der Chambers Street also souveränen Be-Bop, Latin-Jazz und Balladen (etwa Parkers wunderschöne Elegie „Laura“) zu hören.

Steele ist ein sehr sympathischer Leader, der vor allem Mark Kershaw (Saxofon) und Dave Milligan (Piano) reichlich Platz für eigene Soli lässt. Sein inspiriertes Trompetenspiel erinnert an feine Tribute-Alben, die er der wunderbaren schottischen Sophisticated-Pop-Band The Pearlfishers um David Scott, aber auch Joni Mitchell widmete. Ein Jazz-Gig zum Niederknien.

Abschied von der Edinburgh Fringe 2023…

Am Montag heißt es für Gäste und Musiker endgültig Abschied nehmen von einer so anstrengenden wie herzerwärmenden „Edinburgh Fringe 2023“. Das letzte von Hunderten Konzerten während des dreiwöchigen Festivals geben am späten Abend (28.08.2023) unter großem Jubel die Klezmer-, Folk- und Latin-Koryphäen Greg Lawson, Phil Alexander & Mario Caribe. „Wir sind die Band ohne Namen“, sagt der gebürtige Brasilianer Caribe – dabei weiß wohl jeder im Saal des alten Rose Theatres, dass diese vielseitigen Musiker einst zusammen in der schottischen Kult-Gruppe Moishe’s Bagel spielten und damit nun ein Trio-Comeback feiern. Nach einem grandiosen Gig fällt kurz vor Mitternacht der letzte Fringe-Vorhang.

…und weiter geht’s bald mit Wilco

Herausragende Musik wird es in Edinburgh freilich auch nach dem Festival wieder tagtäglich geben. Und schon am Samstag (02.09.2023) steht ein echtes Highlight für Folkrock-Fans an: Dann gastieren Wilco, die für viele Kritiker und Fans derzeit beste Band der Welt, in der altehrwürdigen Usher Hall an der zentralen Lothian Road – vermutlich mit brandneuen Songs des kommenden Albums „Cousin“ (VÖ 29.09.2023) im Gepäck.

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