Die Alben des Jahres 2022 von Werner Herpell

Wilco by Charles Harris

Sounds & Books-Mitarbeiter Werner Herpell präsentiert seine Alben des Jahres 2022

Gähn, mal wieder Wilco – sie haben fast schon ein Abo auf Platz eins meiner Jahresbesten-Charts. Diesmal aber mit einem veritablen „Grower“ von Album, denn die einsame Klasse ihres „Cruel Country“ entfaltete sich für mich erst nach und nach. Wenn die Platte im Januar nun endlich auch physisch erscheint, freue ich mich gleich nochmal über die 21 wunderbaren Songs. Praktisch gleichauf mit Jeff Tweedy & Co. eine Sophisticated-Pop-Sensation aus Norwegen, dahinter die beste deutsche Rock-Scheibe seit langem, eine Vocal-Jazz-Offenbarung aus den USA, ein hochverdienter Latin-Grammy-Abräumer und ein Soul singender Boss. Viel Abwechslung also – lasst Euch überraschen von meinen

Alben des Jahres 2022

1. Wilco: Cruel Country

Nach einem Durchhänger (na ja, für Wilco-Verhältnisse) Mitte der 2010er Jahre sind die sechs Musiker aus Chicago seit „Ode To Joy“ (2019) auf Top-Niveau zurückgekehrt. „Cruel Country“ (bisher leider nur digital erschienen, VÖ 20.1.2023 für Vinyl/CD) ist wieder ein Fest für alle Fans von Jeff Tweedys Songwriter-Kunst und der instrumentalen Virtuosität seiner Band. Neue Lieder wie „Many Worlds“, „Ambulance“ oder „Hearts Hard To Find“ ergänzen jetzt die Best-of-Playlists. Ist das wirklich „Country“? Wenn, dann wohl „Wilcountry“: Folk, Roots-Rock, Singer-Songwriter-Balladen vom Allerfeinsten halt. Die große Wiederveröffentlichung des Meisterwerks „Yankee Hotel Foxtrot“ von 2002 macht das Glück für Wilco-Aficionados im Herbst dann perfekt.

2. Sondre Lerche – Avatars Of Love

Eine ganz andere, mit dem Wilco-Doppelalbum aber durchaus gleichwertige Platte des Jahres. Der Norweger war bereits lange auf dem Radar von Sophisticated-Pop-Verehrern. Ein solches Opus magnum hatte man ihm nach zwei Dekaden im Business aber dann doch nicht mehr zugetraut. In den 15 so erzromantischen wie experimentierfreudigen Songs dieser 90-minütigen Platte fließen die Sensibilität von Prefab Sprout oder Villagers, das lyrische Feingefühl eines Paul Simon, die Lässigkeit der Pet Shop Boys und die Bossanova-Raffinesse von Joao Gilberto perfekt zusammen. Nicht nur der zehnminütige (!) Titelsong ist von berührender Schönheit. Sondre Lerches Geniestreich steckt voller hübscher Zitate und klingt doch völlig eigenständig.

3. Die Nerven – Die Nerven

Schon länger als eine der besten deutschen Rockbands gepriesen, fegen Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kühn mit ihrem fünften Album auch stärkste einheimische Konkurrenz vom Feld. Songs wie das ahnungsvolle „Europa“ oder „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ funktionieren als zutreffende Kommentare zur tristen Zeit. Diese Platte vereint die Wut von Punk, die Wucht lauter Rockmusik und die Empathie der Singer-Songwriter-Zunft. Und auch live sind die Nerven 2022 eine Urgewalt.

04. Lady Blackbird – Black Acid Soul

Marley Munroe war eine junge Soul- und Gospel-Sängerin in der zweiten Reihe, ehe ihr in Zusammenarbeit mit Top-Produzent Chris Seefried unter Pseudonym dieses wunderbar reduzierte, gefühlvolle Vocal-Jazz-Album mit Cover- und eigenen Songs glückte. Nun gilt die selbstbewusst nach einem Nina-Simone-Song benannte US-Lady als kommender Weltstar – nicht nur im Jazz-Genre. Ihre sensationelle Stimme und ihr einnehmendes Wesen rechtfertigen tatsächlich größte Hoffnungen.

5. Jorge Drexler – Tinta y Tiempo

Ein spanischsprachiges Sophisticated-Pop-Werk,  quasi ein (deutlich kürzeres) Partner-Album zu Sondre Lerches großem „Avatars“-Wurf, liefert dieser seit langem erfolgreiche Singer-Songwriter aus Uruguay ab. Auch hier gehen melodische Eleganz und Mut zum Experiment eine atemberaubend stilsichere Verbindung ein. Drexler erinnert mal wieder – und nicht nur wegen seiner noblen, sanften Stimme – an die besten Momente des brasilianischen Latinpop-Kollegen und Vorbildes Caetano Veloso.

6. Bruce Springsteen – Only The Strong Survive

Okay, nur ein Coveralbum vom Boss diesmal, nach den bärenstarken Alterswerken „Western Stars“ und „Letter To You“. Aber was für eine Hommage! Der legendäre Singer-Songwriter und Stadionrocker aus New Jersey, einer der größten US-Künstler überhaupt, spürt seinen Wurzeln als Soul-Verehrer nach und verneigt sich vor der schwarzen Musik. Wie liebevoll Springsteen mit seiner fantastisch gereiften Raspelstimme diese alten Lieder meist fast vergessener Interpreten singt, geht ans Herz.

07. Andreas Ihlebæk  – Nowhere Everything

Dieser geheimnisvolle Norweger pendelt zwischen Neoklassik, Folk-Soul und ätherischer Singer-Songwriter-Musik. Auf seinem bisher besten Album findet er die perfekte Mixtur. Mit zauberhaften Melodien und hauchzarten Vocals erzählt Ihlebæk wundersame Geschichten – nach eigener Aussage ein „Norwegian folk tale“.

8. The Backseat Lovers – Waiting To Spill

Das einzig Blöde an dieser jungen Band ist der arg anzügliche, spätpubertäre Name. Schon mit dem zweiten Album erreichen die Backseat Lovers indes eine erstaunliche Reife. Zwischen Counting Crows, Wilco und Radiohead (der Gesang!) finden die vier Musiker aus dem US-Bundesstaat Utah eine komfortable Nische.

09. Avishai Cohen Trio – Shifting Sands

Nach einigen weniger gelungenen Fusion-Alben, teilweise mit (unnötigem) Gesang, und dem orchestralen „Two Roses“ ist der israelische Meister-Bassist wieder bei seiner Kernkompetenz angelangt: dem unfassbar virtuosen Trio-Jazz des Referenzwerks „Gently Disturbed“ von 2008. Eines der Genre-Highlights 2022, keine Frage.

10. Jessie Buckley & Bernard Butler – For All Our Days That Tear The Heart

Eine hochgelobte irische Schauspielerin („Chernobyl“, „Frau im Dunkeln“) und ein ehemaliger Suede-Gitarrist finden zusammen. Und man kann nur staunen über die fantastische Stimme der Buckley und Butlers erlesene Arrangements. Dunkler Folk und Nachtclub-Jazz sind nur zwei der Spielarten auf dieser prachtvollen Platte.

11. Esbjörn Svensson – Home.S.

Der 2008 bei einem Tauchunfall ums Leben gekommene schwedische Piano-Jazz-Erneuerer galt als grandioser Teamplayer im Esbjörn Svensson Trio (e.s.t.). Sein nun posthum veröffentlichtes Soloalbum mit hochsensiblen Heimstudio-Aufnahmen aus der letzten Lebensphase ist daher ein in jeder Hinsicht unerwartetes Geschenk.

12. Dawes – Misadventures Of Doomscroller

Die kalifornischen Folkrocker mit Tendenz zum Westcoast-Sound der Seventies schaffen es nach fast 20 Jahren, aus bewährten Bahnen auszubrechen. Mit langen, abwechslungsreichen Songs gelingt den Goldsmith-Brüdern ein toller Neustart.

13. Husten – Aus allen Nähten

Die erste echte Langspielplatte der deutschen „Supergroup“ um den famosen Sänger und Songschreiber Gisbert zu Knyphausen bestätigt den Eindruck diverser EPs: Diese kluge Indie-Band platzt vor Talent und Ambition aus allen Nähten.

14. Arctic Monkeys – The Car

Die Entwicklung der Band um Alex Turner ist erstaunlich und erinnert an Paul Weller, der sich vom Mod-Punk mit The Jam zum Soul-Jazz-Feingeist mit The Style Council wandelte. Wann kommt ein James-Bond-Titelsong der arktischen Affen?

15. Jesse Tabish – Cowboy Ballads Part 1

Als Frontmann der US-Folkrocker Other Lives schon bestens bekannt, läuft Tabish zusammen mit Ehefrau Kim in cineastisch arrangierten „Cowboy-Balladen“ zu neuer Höchstform auf. Auch Fans von Ennio Morricone ist das Album sehr zu empfehlen.

16. Madison Cunningham – Revealer

Irgendwo zwischen Fiona Apple, Aimee Mann und Joni Mitchell lässt sich das neue Album dieser US-amerikanischen Sängerin und Gitarristin stilistisch verorten. Cunninghams Lieder sind dabei jedoch nie epigonal, sondern haben stets das gewisse raffinierte Etwas.

17. Weyes Blood – And In The Darkness, Hearts Aglow

Zu Recht einer der Kritiker-Lieblinge in diesem Herbst – Natalie Mering alias Weyes Blood hat eine berauschende Stimme, herrlich opulente Songs und viel Charisma zu bieten. Einziger Einwand: Ihr Balladenalbum ist vielleicht etwas zu monochrom geraten.

18. Tedeschi Trucks Band – I Am The Moon

Vier Alben innerhalb weniger Wochen, einem erzählerischen Konzept folgend, mehr als zwei Stunden Musik: Die formidable Bluesrock-Soul-Bigband um Sängerin Susan Tedeschi und Meister-Gitarrist Derek Trucks dürfte Probleme haben, dieses anspruchsvolle Projekt zu toppen.

19. Tears For Fears – The Tipping Point

Ein Comeback wie aus dem Bilderbuch von einer der besten Bands der 80er. Zwar übertreffen Roland Orzabal und Curt Smith immer noch nicht ihr Meisterwerk „The Seeds Of Love“ von 1989 – aber dieses starke, in den Charts weltweit erfolgreiche Album ist nah dran.

20. Daniel Hope – America

Mit Top-Jazzern und Soul-Sängerin Joy Denalane erfüllt sich der Klassik-Geiger und Orchesterchef Hope seinen Traum: ein hybrides, diverses Album über die Musik Amerikas, von George Gershwin über Florence Price bis zu Sam Cooke. Erhaben und erhebend.

21. Fergus McCreadie – Forest Floor

Als Jazz-Musiker für den Mercury Prize nominiert zu werden, ist eine Seltenheit. Der junge schottische Pianist McCreadie hat aber auch wirklich ein herausragendes Trio-Album vorgelegt – mit schönen, den Folk seiner Heimat aufgreifenden Harmonien.

22. Subterfuge – Dots.

Gibt es eine sympathischere Indie-Band als diese Düsseldorfer Truppe um Thomas Baumhoff und Lars Schmidt? Wohl kaum. Dass Subterfuge mit ihrem an britischen Vorbildern geschulten Gitarrenpop auch nach 30 Jahren noch so toll sind, überrascht dann aber doch.

23. Warhaus – Ha Ha Heartbreak

Auch auf dem dritten Warhaus-Album geht es um den Beziehungsstatus von Balthazar-Sänger Maarten Devoldere. Diesmal ist also Liebeskummer angesagt – in herb-romantischen Songs, die an Nick Cave, Leonard Cohen oder Benjamin Biolay erinnern.

24. Neil Young & Crazy Horse – Toast/World Record

Jedes Jahr drei,  vier (alte oder neue) Alben vom Altmeister – es könnte zu viel sein, wenn das Angebot nicht oft so verlockend wäre. Dieses Jahr glänzen der ewig junge Neil und seine verrückten Pferde mit einem verschollenen Werk von 2002 („Toast“) und neuen Songs.

25. The Smile – A Light For Attracting Attention

Zwei Fünftel von Radiohead plus Jazz-Drummer – die Erwartungen an das neue Projekt von Thom Yorke, Jonny Greenwood und Tom Skinner waren zu Recht hoch. Das Album löst sie mit einer spannenden Mixtur aus Electro, Postpunk, Progrock und Afrobeat ein.

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