Ein berührender, liebevoller, aber auch nüchtern-realistischer Roman
von Gérard Otremba
Das Leben des Gemüsehändlers Pierre ändert sich eines Tages schlagartig. Seine heroinabhängige gute Freundin Hélène wählt im Alter von nur 27 Jahren den Suizid und bittet ihn in einem Abschiedsbrief, sich um ihren achtjährigen Sohn Marcus zu kümmern. Pierre hat Hélène immer geliebt, blieb aber immer nur ihr Freund und das bleibt er auch nach ihrem Freitod. Wie selbstverständlich nimmt er sich des kleinen Marcus an, obwohl er sich zunächst nicht wirklich in dieser Ersatzvaterrolle sieht. Schnell jedoch wächst im Marcus ans Herz, für den er ein besseres Vorbild sein möchte, als es sein Vater für ihn war. Aus Algerien stammend, wuchs er in einem Vorort von Lille auf, nach dem Tod seiner Mutter gehörten Auseinandersetzungen auch körperlicher Natur zu Pierres Teenageralltag. Viele seiner Freunde kämpfen mit Drogenproblemen, so auch Fabienne, die nach einem Entzugsklinikaufenthalt die Patchworkfamilie komplettiert. Alles gut, könnte man meinen, aber so einfach ist das Leben nicht, jedenfalls nicht für Pierre.
Ein erneuter Schicksalsschlag erfolgt in der Mitte des Romans. Pierre berichtet nun aus dem Gefängnis und wir erfahren aus seinen Aufzeichnungen erst nach und nach, dass sein Vater über die Balkonbrüstung seiner Wohnung zu Tode stürzte, nachdem ein Streit der beiden vorausgegangen war. War der Ton des ersten Romanteils, trotz der teilweise heftiger Milieuschilderungen, durchaus beschwingt, heiter, hoffnungsvoll und sozialromantisch, so wandeln sich die tagebuchartigen Eintragungen aus dem Gefängnis zu einem knallharten Realismus. Stilistisch eindrucksvoll sind sie beide, berührend und ergreifend, feinsinnig und erwärmend, aber eben auch radikal und ernüchternd. Dem 1977 in Lille geborenen Pierre Chazal ist mit seinem Debütroman So etwas wie Familie ein sogenannter Überraschungserfolg in Frankreich gelungen, zum Lieblingsbuch der dortigen Buchhändlerschar avancierte es darüber hinaus. Verständlich, schreibt der in Paris lebende Chazal mit einer liebevollen Hingabe zu seinen Protagonisten, weit entfernt von jeglichem Kitschverdacht. Bleibt zu hoffen, dass auch deutsche Buchhändler diesen Roman für sich entdecken und mit Nachdruck empfehlen. Meine Empfehlung ist hiermit ausgesprochen.
Pierre Chazal: „So etwas wie Familie“, Deuticke Verlag, aus dem Französischen von Wolfgang Gösweiner, Hardcover, 978-3-552-06297-9, 18,90 €.
Lieber Gérard,
das Buch liegt hier schon eine Weile und ohne Deine Besprechung hätte ich wahrscheinlich niemals hineingeschaut. Danke dafür.
Viele Grüße,
Friederike
Na gerne doch! Viele Grüße, Gérard
Vielen Dank für diesen besonderen Lesetipp. Ich glaube, die Franzosen haben ein Faible für die besonderen lebendigen wie melancholischen Geschichten, deshalb sind auch ihre Filme immer sehr speziell und liebenswürdig. Der Titel kommt gleich auf meine Wunschliste. Viele Grüße
Da gebe ich dir absolut recht. Viele Grüße, Gérard