Buchpreisträgerin Katharina Hacker legt mit „Die Gäste“ einen bizarren Berlin-Roman vor, der zwischen Gegenwartsanalyse, Dystopie und Märchen oszilliert
Friederike erbt an ihrem 50. Geburtstag von ihrer 17 Jahre zuvor verstorbenen Großmutter ein heruntergekommenes Café in der Berliner Pohlstraße. Gegen vielerlei gutgemeinten Rat gibt sie ohne Umschweife ihre Anstellung im „Institut für schwindende Idiome“ auf, um sich fortan ganz der Bewirtung ihrer Gäste zu widmen. Herr Kowalk, seines Zeichens der Rechtsanwalt ihrer Großmutter und einst deren enger Freund, macht ihr keinerlei Illusionen: „Die Leute kommen vielleicht noch, sagte er, aber der Putz fällt ab, die Ecken sind schwarz, über der Heizung ist es schwarz, die Fensterrahmen sind in schlechtem Zustand, alles ist in schlechtem Zustand, durch die Tür kann jeder einbrechen, die Kaffeemaschine ist alt. Einnahmen gibt es wenige oder gar keine.“ Andererseits: „Das Café!, rief mir Herr Kowalk durch den schmalen Flur hinterher. Das ist auch ein Mittelpunkt der Welt!“ Und vielleicht, so mag man mutmaßen, ist es genau der, der Friederike abhanden gekommen ist.
Nichts bleibt, wie es ist
Was Friederike letztlich zur Übernahme des Cafés bewegt, bleibt – wie Vieles in diesem Roman – angedeutet, unausgeführt. Hochfahrende Hoffnungen hegt sie jedoch keineswegs, lakonisch gesteht sie Herrn Kowalk bei ihrem Besuch in seinen schon halb ausgeräumten Kanzleiräumen: „Zu Hause ist niemand, dem ich eine Tasse Tee bringen könnte“. Denn nachdem zuerst ihr Adoptivsohn Florian an seinem 18. Geburtstag fortgegangen und kurz darauf ihr Ehemann sie verlassen hat, um in die USA zu gehen, lebt sie allein in einer viel zu großen Altbauwohnung. Und so ist sich die Protagonistin schließlich einfach dessen bewusst, dass nichts bleibt, wie es ist, nichts bleiben kann, wie es ist, ist ihr Leben doch geprägt von ‚Abwesenheiten‘, wie ein Kollege es ihr gegenüber formuliert.
Katharina Hacker erfindet einen Zufluchtsort
Nach all diesen erlittenen Verlusten findet Friederike in ihrem Café mit der Zeit jedoch neue Gefährten: Da ist zunächst die polnische Putzfrau Kasia, die ihr in ihrer lakonischen Art zupackend zur Seite steht, und deren Bekannter Stislaw, der ihr bei allen handwerklichen Arbeiten hilft. Mit ihrer beider Hilfe wird das Café nicht nur zu einem Zufluchtsort für die Menschen im Kiez, sondern auch zu Friederikes neuem Zuhause, in dem sie nachts schläft, zusammengekrümmt auf ihrem „Sesselchen“. Stislaw ist es auch, der Friederike nach einem Einbruch ins Café Pollux schenkt, einen großen weißen und zweifellos weisen Hund, der sich auf alles, was geschieht, seinen eigenen Reim macht. Doch nicht nur er spricht mit Friederike, zahllose andere Tiere tauchen auf, streunern durch die Straßen, kommen und gehen, leben ihr Leben, sterben.
Katharina Hacker und Goethe
Was anfangs lediglich ein Lächeln abzuringen vermag, wird als Konzept deutlich, entwickelt sich ins Fantastisch-Fabelhafte. Eine Dimension des Seins wird dadurch erschlossen, die Einblicke sowohl in Friederikes Empfinden als auch in das gesellschaftliche Leben gewährt. So ist folgende Begegnung mehr als nur ein schönes Bild: „Da flatterten vor mir zwei Amseln auf. Amsel!, rief ich laut und schämte mich. […] Die eine flog zu mir und landete vor meinen Füßen. Du bist es, sagte ich, das ist gut. Sie drehte den Kopf hin und her, als müsste sie mich mit jedem Auge gesondert betrachten. Dann sagte sie: Stirb. Es war ein süßer Ton, er fuhr mir ins Herz.“ Als Fabelwesen beharren die Tiere auf ihrer Widerständigkeit und Unverfügbarkeit (was sie mit Friederike verbindet) und können so zu Medien der Erkenntnis werden (so, wie hier, in den Worten der Amsel, Goethes „Stirb und werde“ anklingt).
Vom Sterben und Abschiednehmen
Der Verlust, das Sterben und Abschiednehmen sind allgegenwärtig in Hackers Roman. Die Gäste, die Friederikes Café nach und nach bevölkern, scheinen wie von einem Besen durch die Zeit und herein gekehrt zu werden; woher sie kommen und wohin sie gehen, bleibt offen (und einmal ist sogar ein Toter zu Gast). Manche dieser Gäste kommen wieder, wie Robert, den mit Friederike bald ein zartes Liebesverhältnis verbindet. Doch auch er ist oft fort, er lebt in den Wäldern, beobachtet Wölfe und andere wildlebende Tiere. Das Berlin unserer Tage jedenfalls wird in diesen Figuren nicht erkennbar, sie agieren nicht als Stellvertreter ihres Milieus, sie wirken schrullig, eigenwillig. Die unglaublichsten Geschichten scheinen sich hinter ihren Worten und Gesten zu verbergen, die wir allerdings nicht erfahren. Der Text kippt hier bisweilen ins Szenische, das Café wird zur Theaterbühne, zum Guckkasten, Bewegungen erfüllen den Raum.
Ein Pandemie-Roman
Illusion und Realität (hier: Fiktion und außerliterarische Gegenwart) treten in ein spannungsvolles Verhältnis, in dem der Roman seinen Reiz entwickelt. Die Zeit des Romans ist die einer Pandemie, die als permanent gewordene Bewegung des An- und Abschwellens das gesellschaftliche wie das individuelle Leben prägt. Die Zahlen der Toten steigen, die Symptome der Krankheit können wechseln, gelegentlich ist von einem grassierenden Fieber die Rede, schwarzer Regen fällt, Stürme fegen durch die Straßen und tauchen die Stadt ins Dunkle, Menschen verschwinden, Tiere ziehen des Nachts durch die Straßen der Stadt auf der Suche nach Nahrung. Zeit des Geschehens: nur wenige Jahre in der Zukunft.
Was die Szenerie so unheimlich macht, ist der zur Regel gewordene Ausnahmezustand: Das Grauenvolle ist zur Normalität geworden. Selbst die Heckenschützen, die auf den Dächern der Häuser lauern und scheinbar wahllos auf Menschen schießen, werden zu einem Bestandteil des Straßenbildes, wie es sich vom Fensterplatz im Café aus zeigt. Niemand hier ist sich seines Lebens sicher, niemand kennt die Beweggründe dieser Gewaltakte, von denen auch Kinder und junge Menschen nicht verschont bleiben.
Der literarische Wirklichkeit der Katharina Hacker
Bei allen Anspielungen auf gegenwärtiges Geschehen entwirft Katharina Hacker doch eine literarische Wirklichkeit, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, die ihre eigenen Spuren in die Vergangenheit wie in die Zukunft legt. Wie im Traum können sich die Dinge rückwärts abspielen, aus dem Tod entsteht das Leben, das Leben gebiert den Tod. Insbesondere die Remise, die sich im Hof des Hauses befindet und die Friederike zugleich anzieht und abstößt, zeigt sich als ein solch wunderbarer und von wundersamen Wesen bevölkerter Ort: „Mit einem kleinen Aufruhr senkte sich das Mauerwerk der Remise, vor meinen Augen sah ich das Gebäude um ein Winziges rutschen, hinunter, Richtung Erde, als wollte es sich selber dem Erdboden gleichmachen, so alt und vergessen wie es war, und wie ich erwartete, alles zusammenstürzen zu sehen, fand ich die Remise wieder stillstehen wie zuvor, aber unsicher, als stünde sie auf neuen Beinen, zweifelnd noch.“
Faux terrain oder: Die perfekte Illusion
Es ist der hellsichtige Robert, der den Hof als „faux terrain“ bezeichnet und sich damit eines terminus technicus der Illusionserzeugung bedient, der in der Panoramakunst des 19. Jahrhunderts jenen Bereich des Übergangs zwischen dreidimensionalem Raum und zweidimensionalem Bild darstellt: körperlicher Raum und Malerei fließen optisch zusammen. Als Leser mag man dazu neigen, das literarische Bild der Gegenwart mit der nicht-fiktionalen Gegenwart zu vergleichen (allerdings ist es fraglich, ob diese Art Konkurrenz mit der ‚Wirklichkeit‘ der Sinn von Literatur sein kann), aber vielleicht ist die Bezeichnung des „faux terrain“ auch als poetologischer Hinweis auf die Eigenständigkeit des literarischen Panoramas zu verstehen; das, was wir für ‚objektive‘ oder ‚reale‘ Elemente unseres gesellschaftlichen Lebens halten, diente dann im Gegenteil der Erzeugung einer perfekten Illusion.
Katharina Hacker: „Die Gäste“, S. Fischer, 2022, Hardcover, 256 Seiten, 978-3-10-397337-2, 20 Euro. (Beitragsbild: Katharina Hacker, Credit: Abdreas Labes)
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