Heinz Helle und die zwei Brüder
Mit seinem letzten Roman Eigentlich müssten wir tanzen stand Heinz Helle 2015 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sein neues Werk Die Überwindung der Schwerkraft indes schaffte den Sprung auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2018, der letztendlich an den auch bei Sounds & Books besprochenen Roman Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt von Peter Stamm ging. Im Mittelpunkt von Die Überwindung der Schwerkraft steht die Beziehung zweier Halbbrüder, die aus der Retrospektive des jüngeren erzählt wird.
Die Suada des älteren Bruders
Der ältere Bruder ist verstorben, der jüngere erinnert sich besonders an die letzte gemeinsame Begegnung, eine durchzechte Nacht in München, in der der ältere Bruder die Wortführung übernimmt und in einer Art Bewusstseinsstrom über eine Vielzahl an Themen philosophiert, die von Kinderschänder Marc Dutroux bis zum 2. Weltkrieg reichen und Aktuelles wie eine Links-trifft-auf-Rechts-Demonstration in Dresden berücksichtigen. Man muss diese sich überschlagende Suada konzentriert lesen, um den Blick zu behalten über die ständig wechselnden Gedankensprünge und Exkurse dieses vom Weltschmerz gezeichneten Melancholikers. Häufig verliert man sich jedoch nicht nur in den Gedanken des älteren Bruders, dessen Vater die Familie für die jüngere Mutter des Ich-Erzählers verließ, sondern auch in seinen eigenen.
Ein verzweifelter Idealist und Misanthrop
Schon rein optisch macht es der 1978 in München geborene und mittlerweile in Zürich lebende Schriftsteller der Leserschaft nicht unbedingt einfach. Der gesamte 200-Seiten-Roman ist in einem kapitel-, absatz- und dialoglosen Blocksatz gedruckt, gespickt mit ellenlangen, verschachtelten Sätzen, die von einem Thema zum nächsten gleiten. Nichtsdestotrotz zeichnet Heinz Helle ein starkes Portrait eines verzweifelten, vom Humanismus geprägten Idealisten und Misanthropen, der sein privates Glück bei einer Prostituierten gefunden zu haben glaubt und durch eine schwere Krebskrankheit in noch zu jungen Jahren aus der Welt gerissen wird.
Heinz Helle überwindet die Schwerkraft
Besteht die Gefahr, sich im Mittelteil in den Ausschweifungen über Kunst, Politik und Philosophie zu verlieren, so holt Heinz Helle einen am Ende wieder zurück, wenn die Erinnerungen des zwölf Jahre jüngeren Erzählers in die Jugendzeit des Halbbruders führen und an kleinen Anekdoten und Details die Unterschiede der Brüder verdeutlichen. Ein komprimierter und teilweise faszinierender Roman über Schuld, Trauerarbeit und das Leben mit all seiner Schwere, sowie eine Liebeserklärung des „kleinen“ an den verstorbenen großen Bruder. Und für einige Augenblicke überwindet Heinz Helle mit diesem Buch auch die Schwerkraft.
Heinz Helle: „Die Überwindung der Schwerkraft“, Suhrkamp, Hardcover, 208 Seiten, 978-3-518-42823-8, 20 € (Beitragsbild: Buchcover).