Emiliana Torrini: Miss Flower

Emiliana Torrini credit Dean Rogers

Eine Kiste mit Liebesbriefen an eine faszinierende Frau war der Ausgangspunkt für das neue Album von Emiliana Torrini. Ist der Isländerin das Songwriting-Experiment geglückt?

von Werner Herpell

Mal die Perspektive wechseln, in eine andere Haut schlüpfen – für Emiliana Torrini war das der willkommene Anlass, nach zehn Jahren endlich wieder ein echtes Soloalbum zu machen. Zuletzt hatte die Isländerin 2023 ihre zweite Platte mit dem belgischen The Colorist Orchestra vorgelegt – „Racing The Storm“ wurde auch bei Sounds & Books gelobt als „starkes Album, bei dem alle Björk-Vergleiche für Emiliana Torrini hinfällig werden“. Jetzt also „Miss Flower“ als Vertonung von Briefen, die über Jahrzehnte an die inzwischen gestorbene Mutter einer der engsten Freundinnen Torrinis geschrieben wurden. Eine ambitionierte Unternehmung – und eine erneut sehr gelungene.

„Die Geschichte anderer ist wundervoll“

Emiliana Torrini Miss Flower Albumcover

Früher habe sie letztlich meist aus ihrer sehr persönlichen Sicht Lieder verfasst – und „dabei ging es dann doch oft um mich selbst“, räumt die 47-jährige Sängerin im S&B-Interview des Kollegen Ullrich Maurer ein. Nun hingegen „die Geschichte anderer zu erzählen – wie wir es jetzt getan haben – ist wundervoll, einfach weil ich selbst so sehr daran interessiert war. Ich kenne meine eigene Geschichte ja nun wirklich zur Genüge, und die finde ich nicht besonders interessant.“

Ausgangspunkt war der Fund einer großen Kiste mit Dutzenden Liebesbriefen – „von Männern aus der ganzen Welt, über Jahrzehnte geschrieben an eine Frau, deren Leben so spannend war wie auch geheimnisvoll“, berichtet Torrinis Label Grönland Records. Besagte Geraldine Flower „hatte neun Heiratsanträge bekommen, aber nie geheiratet“, erzählt Torrini. „Wir haben angefangen, einige dieser Briefe, meist, aber nicht nur, von Männern zu lesen. Sie waren ziemlich besessen von ihr, total verknallt.“

Sinnliche Texte, reduzierte Sounds

Soviel zur Inspiration für die Lyrics, die manchmal ernst oder melancholisch, oft aber auch humorvoll und sogar ganz schön sexy daherkommen. „When we make love…“ heißt es beispielsweise mantra-artrig zu sphärischem Keyboard-Geplucker in „Love Poem“, einem Song, mit dem Torrini auch stimmlich dem ungeliebten Björk-Vergleich kaum entkommen kann. Und auch der Titelsong ist ziemlich „explicit“ sinnenfroh. Die Musik bleibt insgesamt reduziert, so dass man sich gut auf die Texte konzentrieren kann, die teilweise als Spoken-Word-Stücke präsentiert werden (beispielsweise im etwas düsteren Opener „Black Water“).

Da die Torrini-Freundin Zoe Flower (also die Tochter von „Miss Flower“) mit ihrem langjährigen Keyboarder und Songwriting-Partner Simon Byrt verheiratet ist, gestalteten sich die Personalsuche und die Zusammenarbeit für das neue Album unkompliziert. Dennoch gingen schließlich rund zwei Jahre ins Land, bis die Platte nun erscheinen kann.

In einer Blase mit Geraldines Briefen

„Es lagen zuweilen Monate zwischen den einzelnen Songs, weil wir diese in West-Chiswick in London schrieben und ich ja jetzt in Island lebe – und ich dachte zunächst gar nicht daran, daraus eine LP zu machen“, sagt die 1977 in Reykjavik geborene Musikerin. „Aber das war dann alles sehr einfach, und immer, wenn ich aus Island nach London zurückkehrte, befand ich mich gleich in dieser massiven Blase mit Geraldines Briefen und konnte gleich weiter an den Songs arbeiten. Ich lebte dann in Geraldines ehemaliger Wohnung und hatte ihren alten Hund dabei, wenn wir im Gartenhaus ins Studio gingen. Erst später haben wir uns dann entschlossen, aus dem Material ein ganzes Album zu machen.“

Eine gute Entscheidung. Emiliana Torrini, die vor 15 Jahren mit dem Album „Me And Armini“ und der Nummer-eins-Single „Jungle Drum“ auf dem Weg zum großen Starruhm war, dann aber doch anders abbog, erweist sich erneut als eine der interessantesten nordeuropäischen, nein, europäischen Singer-Songwriterinnen. „Miss Flower“ ist eine äußerst gelungene, fantasievolle Electro-, Trip-Hop- und Art-Pop-Platte, mit der die Isländerin einer faszinierenden, auch freigeistigen Frau ein Denkmal setzt.

Emiliana Torrini brilliert als Solo-Künstlerin

„Diese Briefe haben mir auf jeden Fall die Augen geöffnet“, sagt Torrini. „Geraldine war eine unglaublich mutige Frau – insbesondere zu der Zeit. Du kannst dich selbst in ihren Briefen wiederentdecken.“ Nach Jahren des Haderns mit der Musikindustrie ist „Miss Flower“ zugleich ein Zeugnis des neu erwachten Selbstbewusstseins als brillante Solo-Künstlerin.

Das Album „Miss Flower“ von Emiliana Torrini erscheint am 21.06.2024 bei Grönland Records. (Beitragsbild von Dean Rogers)

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