Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff

Michael Köhlmeier 2021 credit Peter-Andreas Hassiepen

Neues vom Trickser Michael Köhlmeier: In „Das Philosophenschiff“ verknüpft der österreichische Autor virtuos verschiedene Erzählstränge

von Gérard Otremba

Auf sogenannten „Philosophenschiffen“ verbannte die sowjetische Staatsführung zu Beginn der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts unliebsame Intellektuelle des Landes. Im neuen Roman von Michael Köhlmeier befand sich im Jahr 1922 die damals 14-jährige Anouk Perlemann-Jacob mit ihren Eltern auf einem eben solchen, hier erfundenen, Schiff. Im Alter von hundert Jahren gibt die in St. Petersburg geborene, ehemalige Stararchitektin dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, der ein Buch über den damaligen, über sie noch unbekannten biographischen Abschnitt schreiben soll, ein Interview. Der österreichische Autor, dessen zuletzt veröffentlichte Romane „Frankie“ und „Matou“ wir bei Sounds & Books ebenfalls rezensiert haben, erhebt sich gleichsam zu einer Romanfigur und wird somit Teil der gegenwärtigen Story. Passagenweise lässt Köhlmeier die alte Dame in Monologform  berichten, zeitweise greift er auf die Dialogform des Interviews zurück.

Lenin auf dem Philosophenschiff

Michael Köhlmeier Das Philosophenschiff Cover Hanser Verlag

Perlemann-Jacob erzählt ihm von nur zwölf Passagieren, die fünf Tage im Wartezustand auf dem Meer in der 3. Klasse eines Luxusdampfers verbracht haben, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll, stets mit der Angst lebend, doch noch erschossen zu werden, bevor noch ein weiterer Gast an Bord ging. Es war der durch Schlaganfälle halbseitig gelähmter Lenin höchstselbst, auf dessen Befehl die Schiffsdeportationen überhaupt stattfanden. Einer von vielen kleinen Coups Köhlmeiers, der in „Das Philosophenschiff“ geschickt historische Fakten in die fiktionale Geschichte einwebt. Nicht nur Lenin gehört zu den Romanfiguren, in der unter russischen Migranten in Paris spielenden Vorgeschichte von Anouks Familie treffen ihre Eltern auf historisch belegte Sozialrevolutionäre und Künstler und geraten später ins Visier der Bolschewiki.

Während die Anwesenheit des „Ruf der Wildnis“ von Jack London lesenden Lenins auf dem Schiff den anderen Ausgewiesenen verborgen bleibt, sucht die 14-jährige Annouk dessen Nähe und kommt mit ihm ins Gespräch, obwohl Lenin sonst den Kontakt mit anderen  Menschen eher meidet („Die nächtliche Seeluft tue ihm gut. Er wolle niemanden sehen, der Anblick von Menschen tue ihm nämlich nicht gut.“).

Der virtuose Erzähler Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier lässt in seinem neuen Roman virtuos verschieden Erzählstränge-, und Zeiten ineinanderfließen und widmet sich auf lediglich 220 Seiten wie beiläufig weiteren Themen. So hinterfragt er das Schreiben selbst und schraubt an den Schnittstellen zwischen Erinnerung, Wahrheit und Fiktion. Das macht der 1949 geborene Schriftsteller mal wieder auf seine eigene, ganz und gar charmante, clevere und elegante Art. Köhlmeier spielt gekonnt mit den unterschiedlichen  Romanebenen und erweist sich als ein großer literarischer Trickser. Man nimmt ihm als Leser jede kleine Flunkerei nur allzu gerne ab, schlicht, weil er zu den besten seines Fachs gehört.

Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“, Hanser, Hardcover, 224 Seiten, 978-3-446-27942-1, 24 Euro. (Beitragsbild von Peter-Andreas Hessiepen)       

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