Kim de l’Horizon auf der Suche nach dem Ich
Es ist anmaßend eine Rezension zu Kim de l’Horizons “Blutbuch” schreiben zu wollen, weil es nicht möglich ist den Text in ein paar Zeilen zusammenfassen. Es braucht Zeit, um in diese Texte einzutauchen, sie zu durchdringen – denn das Blutbuch sind mehrere Texte. Eine hilfreiche Metapher um zu beschreiben, was das „Blutbuch“ ist, könnte das von Kim de l’Horizon selbst häufig genutzte Wasser sein. Die Texte des Blutbuches sind wie Wasser in allen möglichen Aggregatzuständen und Formen. Der Text ist ein Eisblock, wenn es um die Kälte der Mütter geht, die sich in das Kind hinein frisst und selbst beim Kind dann unter einer Falltür versteckt weiter existiert, ja sogar zum Überlebensmotor wird.
Dann wieder wird der Text zum anschmiegsamen warmen, aber auch tiefen, dunklen See, der Sexpartner aufnimmt, umschmeichelt und verschluckt. Später ist er ein reißender Wasserfall, wenn sich der*die Protagonist*in in die vielen, vielen Biografien der Ahninnen begibt, sich auf der Suche nach dem eigenen Ich durch die Geschichten der Mütter wühlt.
Das Blutbuch durchbricht jede traditionelle Erzählform
Aber schon darin liegt der Fehler. Es gibt nicht dieses eine, fest umrissene Ich. Kim de l’Horizon führt uns Lesende durch viele Ich-Varianten. Das gelingt nicht nur inhaltlich, untergliedert in fünf Teile, sondern – und darin liegt der absolute Genuss dieses Buches – es gelingt vor allem mithilfe der Sprache. Die Sprache de l’Horizons ist amorph wie ein Lebewesen und passt sich diesen verschiedenen inhaltlichen Teilen an. Dabei brechen die Textformen alles Traditionelle auf. Die Lesenden bleiben schnaufend und überrumpelt und völlig beglückt zurück. Das also kann Sprache?
Die absolute Lust am Sprachspiel ist im ersten Teil wie eine raffinierte, vielschichtige Cremetorte, die man mit bloßen Fingern essen will. Obwohl man alle Nuancen noch ein bisschen länger auf der Zunge zergehen lassen könnte, schaufelt man den Text weiter in sich hinein. Und dann muss man irgendwann inne halten und atmen. In diesem ersten Teil zeigt Kim de l’Horizon eine Sprachmacht, die dann mitunter so aussieht: “Das Kind ließ Grossmeer nie allein in ihrer Hungereinsamkeit. (…) Was das Kind umgab, war nie außerhalb von ihm, es hatte keine Haut; die Welt ging in ihm aus und ein.”
Wie Körper Traumata erinnern
Die Verlorenheit dieses Kindes, die übergeht in die erwachsene Figur, ist zentraler Punkt und schmerzhaft, manchmal unerträglich zu lesen. Beschrieben werden in sich und ihrer eigenen Geschichte gefangene Erwachsene, die das Kind im Prinzip nur für ihre eigenen Bedürfnisse und Bedürftigkeit nutzen. Ein Kind, das eigentlich nicht hätte sein sollen und für das sich die Mutter dennoch entschied. Dieses Kind hat auf gewisse Weise seinen Körper verloren und mit ihm verlor es auch die Geschichten und Erinnerungen. Denn im Körper sitzt das Wissen, sitzen die Traumata einer ganzen Ahnenreihe von Frauen, die es durch Südeuropa, diverse Kriege und das Elend der Hexenverbrennungen zog.
Der Körper vergisst das nicht. Aber er kann verschütt gehen unter dem Schmerz und dem Missbrauch, er kann verloren gehen unter den gesellschaftlichen Erwartungen, dem er sich entziehen will, ja entziehen muss, um sein zu können. Die Frauen der Familie nutzen diesen Kinderkörper als Versicherung ihrer selbst und so heißt es am Ende über die Großmutter, die das Enkel permanent berührt und streichelt: “You were subconsciously trying to soothe yourself. How arrogant of me to hate your caressing. It was not meant for me.” Und über die Mutter, die sich mitunter ohne Vorwarnung in eine eiskalte und unnahbare Frau verwandeln konnte: “Sie hat mich gemacht, damit jemensch sie bedingungslos liebt. Und wenn sie stirbt, dann sterbe ich auch. Ich musste Meer am Leben erhalten mit meinem winzigen Leben.”
Im Blutbuch verhandelt Kim de l’Horizon die großen Themen
Neben der Suche nach dem unter allen Müttern und Ahninnen verschütteten Ich geht es auch um die Liebe. Es geht um die Liebe zu sich selbst mit einem Körper, der so durchlässig wie Wasser ist und alle und alles in sich aufnimmt. Das erwachsen gewordene Kind sucht Versicherung, das Gefühl für sich selbst erfährt es kurzzeitig beim Sex mit zufälligen Partnern. Der*die Protagonist*in zieht sich zurück, erfährt Gewalt und Erniedrigung und schreibt das Blutbuch, nachdem er*sie den Stammbaum, und die Mutterblutbuche gefunden hat. Im letzten Teil wechselt der Text in die Briefform und nutzt dafür das Englische, jene Sprache, die die Mütter nicht verstehen.
Jetzt kann der*die Autor*in freier und offener schreiben, auch wenn es im Englischen den Witz aus dem vorangegangenen Teil ein bisschen vermissen lässt. In diesem mittleren Teil des Buches nutzt Kim de l’Horizon Sprache so befreiend, dass es eine Freude ist und man manchmal laut lachen muss beim Lesen. Selbst den wissenschaftlichen Fußnoten wird noch aufs Spielerischste der Weisheitszahn gezogen. Dieses Aneignen von Sprache, um zu sich zu kommen, Welt zu durchdringend und ein bisschen zu verstehen, woher mensch kommt und was sie*ihn gemacht hat, allein dafür hätte das “Blutbuch” den Deutschen Buchpreis verdient.
Kim de l’Horizon: „Blutbuch“, Dumont, Hardcover 334 Seiten, 978-3-8321-8208-3, 24 Euro (Beitragsbild: Anne Morgenstern)
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Hallo Nina. Danke für diese ausführliche und lebhafte Buchvorstellung. Ich habe über das Blutbuch von Kim De L’Horizon in den Nachrichten gelesen und dieser Artikel hat mir nähere Infos zum Buch geschenkt. Macht weiter so bei https://www.soundsandbooks.com/.