Die Meisterin des impressionistischen Realismus: Iris Wolff eröffnet das literarische Jahr mit einem fabelhaften Roman über eine langjährige Liebe und Freundschaft
von Gérard Otremba
Lev und Kato sind Freunde seit der Kindheit. Im ersten, sehr kurzen Kapitel von „Lichtungen“ sind sie gemeinsam unterwegs, die Straßenmalerin Kato und Lev, aus dessen Perspektive Iris Wolff die Geschichte erzählt. Sechs Wochen lang ließen sie sich treiben, von Zürich nach Paris, Nantes, Montpellier und von dort die Küste entlang Richtung Osten. Nun wollen sie gemeinsam zurückreisen, denn „man müsse immer bereit sein, aufzubrechen“, sagt Kato zu Lev. Wohin die Rückreise geht, verraten uns die Protagonisten nicht, indes wird für die Leser schnell klar, es geht in ihre Vergangenheit, zumal Iris Wolff ihren neuen, nach „Die Unschärfe der Welt“ von 2020, fünften Roman mit Kapitel 9 beginnt und folgerichtig mit dem ersten enden lässt.
Iris Wolff erzählt in chronologisch umgekehrter Reihenfolge
Wolff schildert die Story von Lev und Kato also in chronologisch umgekehrter Reihenfolge und steigt nach dem dreiseitigen Einleitungskapitel mit der Ankunft Levs in Zürich ein, nachdem er vier Wochen vorher Katos Postkarte mit dem Satz „Wann kommst du?“ erhalten hatte. Die spezielle Freundschaft verbindet und Lev stößt zu der offensichtlich sich bereits länger auf Reisen befindlichen Kato, schließlich hat Lev sie schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Auf dem Weg nach Zürich hat Lev einen Zwischenhalt bei seinem Großvater Ferry in Wien eingelegt. Ihm hat er einst zur Flucht verholfen. Zur Flucht aus Rumänien zur Zeit des Diktators Ceaușescu. Rumänien heißt sein Geburtsland, dort lernte er als Kind in einem Dorf im Norden des Landes die Außenseiterin seiner Klasse Kato kennen, die ihm während einer Krankheitsphase nach einem Unfall mit den Hausaufgaben half, und dorthin bewegt sich Iris Wolff sukzessive mit ihrem Romanstoff.
Levs Verwandtschaft
Wie in einem Gespräch mit einer bisher unbekannten Person erfahren die Leser wichtige Details und Begebenheiten aus dem Leben Levs und begegnen wichtigen Menschen aus seinem Umfeld. Sein Opa Ferry eben, der Vater von Levs siebenbürgisch-deutscher Mutter, der sich als Österreicher mit einem Faible für die Habsburger Monarchie sieht. Lev ist der Sohn aus der Ehe seiner Tochter Lis mit einem Rumänen, der schon drei Kinder in die Partnerschaft gebracht hat. Levs Großmutter väterlicherseits – von ihm immer nur als „Bunica“ (rumänisch für Oma) angesprochen – war eine der prägendsten Personen in seinem Leben und ausgestattet mit einem untrüglichen Gespür für die Menschen („Einmal hatte Lev gefragt, woher sie ihr Wissen habe. Das Wissen käme aus dem Leib, aus dem ganzen Leib, sagte sie – die meisten Leute kämen jedoch bedauerlicherweise nie über ihren Kopf hinaus.“).
Eine Erinnerungsreise
In dieser Art einer Erinnerungsreise in der Vergangenheit spielt der konkrete Zeitpunkt der einzelnen Kapitel eine untergeordnete Rolle. Bis auf wenige Ausnahmen mit historischem Kontext (wie der Tschernobyl-Katastrophe von 1986) konkretisiert Iris Wolff nicht das exakte Jahr, lässt ihre Leser aber nicht komplett im Unklaren. Die 1977 in Siebenbürgen geborene, 1985 nach Deutschland gezogene und in Freiburg wohnende Schriftstellerin geht auf die Bespitzelungen während der Zeit der Diktatur ein und auch die Veränderungen im Land unmittelbar nach der Revolution („Er sah über die Felder, eine Landschaft, die ohne Lichter und Menschen auskam. Sie lebten in einer preisgegebenen Welt. Einer Welt an der Schwelle. Kato hatte es wahrgenommen, er nicht.“), die Lev auf einer Radtour erlebt, sind ein wichtiger Bestandteil des Romans.
Schöner Beginn mit Iris Wolff
Im Kern bleibt es aber die Geschichte einer langjährigen Freundschaft und Liebe, der sich Iris Wolff mit sprachlich filigraner Behutsamkeit nähert. Wolff ist die Meisterin eines impressionistischen Realismus. Eine Meisterin, die ihre Leserschaft auf melancholische, sanfte, poetische und pointierte Art einfängt. Ein wunderprächtiger Roman auch über das (Weg-)Gehen und Bleiben in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs. Über ihren Roman „Die Unschärfe der Welt“ schrieb ich, er sei ein „Glücksfall für die deutsche Literatur“. Als ein solcher Glücksfall entpuppt sich „Lichtungen“ ebenfalls. Schöner hätte das Literaturjahr 2024 nicht beginnen können.
Iris Wolff: „Lichtungen“, Klett-Cotta, Hardcover, 254 Seiten, 978-3-608-98770-6, 24 Euro. (Beitragsbild von Maximilian Gödecke)