Grimson: Climbing Up The Chimney

Grimson Pressefoto

Was ist denn hier los??? Quasi aus dem Nichts legt der junge US-Singer-Songwriter und Wahl-Berliner Grimson ein Sophisticated-Pop-Meisterwerk vor.

von Werner Herpell

Man mag es kaum glauben, aber dieser Aiden Berglund alias Grimson soll erst 20 Jahre alt sein. Dabei hat der Wahl-Berliner die perfekten Popsongs seines Debütalbums „Climbing Up The Chimney“ laut Auskunft auf der eigenen Bandcamp-Seite „between 2013 and 2017“ geschrieben. Kann das alles sein? Optisch geht Grimson jedenfalls als noch sehr junger Mann durch, dem man dieses leicht exzentrische Prachtwerk inklusiver toll animierter Song-Videos durchaus zutraut. Glauben wir ihm also die schöne Geschichte vom frühreifen, extrem vielseitigen Künstler-Talent, das sich nun wundertütengleich zu einer der größten Überraschungen des Pop-Jahrgangs 2023 entfaltet.

Fast lupenreiner „Bedroom Pop“

Zudem verfügt Grimson offenkundig über enorme Fähigkeiten an diversen Instrumenten (er spielt die meisten selbst) und große Arrangeurs-Künste. Denn die 14 Lieder von „Climbing Up The Chimney“ (und zwei weitere, die man bei Bandcamp quasi als Bonus-Tracks erwerben kann) wurden eingespielt und

___STEADY_PAYWALL___

produziert „in a bedroom in Brooklyn, in a dorm room in the Hudson Valley, in a basement on Staten Island, in a bedroom in Berlin, and at Impression Studios in Berlin“. Abgesehen von der letztgenannten Location ist dies also ein lupenreines „Bedroom Pop“-Werk.

Zu Vorgängern dieser Schlafzimmer-Frickelei-Methode zählten die geschätzten Experten des „Musikexpress“ vor einiger Zeit beispielsweise die Cleaners From Venus, Clairo, Girl In Red oder (Sandy) Alex G. Aber auch Paul McCartney, Paddy McAloon (Prefab Sprout), Sondre Lerche oder Beck haben in der weitgehenden Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände schon solche Homerecording-Werke eingespielt.

Trotz großer Vorbilder nie epigonal

Womit wir bei einigen künstlerischen Bezugspunkten von „Climbing Up The Chimney“ wären. Dazu zählen neben den vier bereits Genannten noch Elliott Smith (Grimsons Stimme ähnelt der des tragischen Songwriter-Genies der 90er sehr), Soundtrack-Großmeister Jon Brion (dessen Spieldosen-Pop aus „Punch-Drunk Love“ oder „Vergiss mein nicht!“ hier mehrfach herrliche Wiederauferstehung feiert) sowie Aimee Mann und Fiona Apple (die geschmackssicheren Bezüge zu den Beatles und Harry Nilsson!).

Der ursprünglich aus New York stammende, seit einigen Jahren in Berlin lebende Berglund hat in einem Interview auch David Bowie und The Kinks als Vorbilder bezeichnet. Bei so vielen großen Namen könnte man nun meinen, dass „Climbing Up The Chimney“ ein arg epigonales Angeber-Album geworden ist oder unter der Last seiner Ambitionen zusammenbricht. Doch weit gefehlt, hier werkelt ein kluger, origineller junger Musiker selbstbewusst unter Zuhilfenahme weniger Freunde (im fabelhaften Artpop-Walzer „Round Trip Ticket“ etwa Chris Hill am Schlagzeug und das Oriel String Quartet) vor sich hin – und erschafft dabei stets verblüffende und bewegende Songjuwelen.

Entdeckungen garantiert

Das mit dem Produzenten Robbie Moore zusammengebastelte Album funktioniert hervorragend als Ganzes, und trotz seiner immerhin 14 Lieder wird es nie langweilig, weil hier so viel passiert – neue Entdeckungen sind bei jedem Hördurchgang garantiert. Aber einige Tracks darf man dann doch hervorheben.

Das bereits erwähnte, streicherverzierte „Round Trip Ticket“ könnte auch von den beiden letzten regulären Elliott-Smith-Werken „XO“ und „Figure 8“ stammen – dieser Barockpop-Song erzählt von Berglunds Kindheit und der Trennung von seiner Familie, der Text wurde angeblich bereits in der Grundschulzeit geschrieben. „Fault Lines“ beginnt als Album-Opener ganz verhalten mit Piano-Tupfern und zartem Gesang, wird aber immer üppiger und wuchtiger mit donnernden Drums und prägnanten Gitarrensoli – die ähnlich jungen Lemon Twigs lassen (nicht zum letzten Mal) grüßen. Im verspielten „Household“ zeigt Grimson seine juvenile Begeisterung für die „Fab Four“ (ebenfalls nicht zum letzten Mal).

Grimson berührt und beeindruckt

Das schillernde, gitarrenkrachige „Heavy Machine“ und „Leave It Like You Found It“ begeistern mit einigen der komplexesten Arrangements auf einer ohnehin sehr ausgefuchsten Platte. Die filigranen Balladen „Set Gently“ und „I Was A Moth“ können zu Tränen rühren. Und mit dem traumhaften Sixties-Pop-Stück „Good Dreams“ sowie dem musical-artigen „Chimney Sweeper“ reizt Grimson sein riesiges Talent gegen Ende des Albums nochmals voll aus.

Textlich sind mehrere Lieder von „Climbing Up The Chimney“ recht traurig und pessimistisch geraten, etwa „I Hate Myself Now“, „Never Dealt (With Anything This Hard)“ oder „How Come No One Told Me“. Aiden erzählt: „A lot of the songs deal with trying to make sense of the overwhelming emotions that I faced as a teenager – most notably anger and confusion, but also lust, shame, and a grappling with my Brooklyn-Jewish identity.“ Während der Singer-Songwriter bis heute in seinen Lyrics aus solchen Erinnerungen schöpft, entdeckte er in Berlin auch ein Talent für Animationen zu fantasievollen Musikvideos.

Grimson legt Messlatte hoch: „Lots of melodies“

Alles in allem hat Grimson gleich mit seinem Albumdebüt die Messlatte verdammt hochgelegt – für andere Singer-Songwriter mit einem Faible für Sophisticated Pop, aber auch für sich selbst. Er bleibt zum Glück ganz locker: Sein Ziel sei einfach nur, „songs with lots of melodies“ zu schreiben und aufzunehmen. Mit den Worten „Hope you enjoy“ verabschiedet sich der junge Musiker auf seiner Bandcamp-Seite von den (hoffentlich bald noch zahlreicheren) Hörern. Diesen Anspruch hat Grimson mit „Climbing Up The Chimney“ lässig übererfüllt. Chapeau, Aiden!

Das Album „Climbing Up The Chimney“ von Grimson erscheint am 01.09.2023 im Eigenvertrieb Independent und über Grimsons Bandcamp-Seite. (Beitragsbild: Pressefoto)

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Kommentar schreiben