Ulrich Woelk: Mittsommertage

Ulrich Woelk credit Bettina Keller

Ulrich Woelk lässt das Leben seiner Protagonistin aus dem Ruder laufen und setzt mit „Mittsommertage“ ein literarisches Glanzlicht des Jahres 2023

von Gérard Otremba

Dass seine Erzählkunst auch die Langdistanz trägt, hat Ulrich Woelk mit seinem 2021 veröffentlichten, mit dem Alfred-Döblin-Preis für das Manuskript ausgezeichneten, prallen und über 600 Seiten langen Roman „Für ein Leben“ unterstrichen. Bei seinem neuen literarischen Werk „Mittsommertage“ begnügt sich der in Berlin lebende Schriftsteller mit knapp der Hälfte an Inhalt, der jedoch nicht minder überzeugt. In „Mittsommertage“ begleitet Ulrich Woelk seine Protagonistin Ruth Lember eine Woche lang, von Montag bis Sonntag, im Juni 2022. Die erzählte Zeit also sehr nah an unserer Gegenwart, die Leser können sich vermutlich noch gut an jenen Sommeranfang erinnern (der Rezensent dieses Buches beispielsweise war just mit Corona außer Gefecht gesetzt).

Ein Hund, ein Biss und andere Probleme

In den Mittsommertagen 2022 erlebt auch Ruth Lember einschneidende Erlebnisse ihres Lebens. Am Montag nach einem erholsamen Schlaf hat sie noch „Lust auf diesen Tag und die vor ihr liegende Woche“, doch nur wenige Seiten später wird Woelks Hauptfigur bei ihrer morgendlichen Laufrunde am Lietzensee von einem Hund gebissen. Ein erstes Zeichen für aufmerksame Leser, dass Lembers Woche vielleicht nicht ganz wie erhofft und gewünscht verlaufen wird. Die Philosophie-Ethik-Professorin an der Berliner Humboldt-Universität geht sehr kulant mit der Hundebesitzerin um und ignoriert zudem die Intensität des Bisses, die sich von Stunde zu Stunde verschärft. Nicht ihr einziges Problem, wie der Wochenverlauf zeigen wird. Sie hegt den Untreueverdacht gegen ihren Mann Ben, der auf das Ergebnis einer Architekturausschreibung wartet, und fühlt sich von einem Mann verfolgt.

Ulrich Woelk zieht Parallelen

Ulrich Woelk Mittsommertage Cover C.H.Beck Verlag

Tatsächlich entpuppt sich der Verfolger als ein ehemaliger guter Freund aus Studententagen, mit dem sie in einen strafrechtlich relevanten Vorfall verwickelt war. Nicht ganz ungefährlich für die ganz frisch in den Ethikrat Berufene, zumal noch ein Beweis ihrer Mittäterschaft existiert. Ein von ihr gegebenes und bei der Autorisierung nur unzureichend gegengelesenes Interview trägt nicht minder zur Destabilisierung ihres Lebens bei. Gekonnt zieht Ulrich Woelk Parallelen aus Ruth Lembers Vergangenheit zur Gegenwart ihrer Stieftochter Jenny, die sich offen den Protestaktionen der „Letzten Generation“ anschließt. Für beide Frauen stellt(e) sich die moralische Frage, wie weit man im Protest gehen kann.

„Es musste doch möglich sein, zum Ausdruck zu bringen, dass es moralisch gerechtfertigt, ja sogar geboten war, zu einem Mittel wie – so hieß es juristisch – Sachbeschädigung zu greifen. Dass es Zeiten gab, in denen Sabotage ein vernünftiges Mittel des zivilen Ungehorsams war. Die Begriffe Notlage und Notwehr fielen ihr ein, sie schienen es noch am besten zu treffen.“ So versucht Ruth Lember ihr Verhalten in jungen Jahren zu rechtfertigen, doch die besten Absichten können sich auch gut 30 Jahre später zu Stolperfallen verwandeln, wie Woelks Hauptfigur erkennen muss.

Der gelassene Erzähler Ulrich Woelk

Obwohl vieles also in Ruth Lembers Leben aus dem Ruder läuft, bleibt Ulrich Woelk ein gelassener Erzähler, der die dramatischen Züge des Plots nicht übertreibt und genau weiß, wie viel er seiner Protagonistin zumuten kann. Und nicht nur ist Woelk ein gelassener Erzähler, sondern auch ein feiner Beobachter der kleinen Details abseits des großen Ganzen und versteht es gut, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Für Ruth Lember bricht am Ende des Romans ein neuer Tag an, es ist viel passiert in einer Woche, aber das Leben geht weiter, kein Grund zu überbordendem Pessimismus. Und wer noch ein literarisches Glanzlicht des Jahres 2023 zu Weihnachten verschenken möchte, der sollte zu „Mittsommertage“ von Ulrich Woelk greifen.

Ulrich Woelk: „Mittsommertage“, C.H. Beck, Hardcover, 285 Seiten, 978-3-406-80652-0, 25 Euro. (Beitragsbild von Bettina Keller)   

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