In seinem neuen Roman „Für ein Leben“ zeichnet Ulrich Woelk ein detailliertes und mitreißend geschriebenes Gesellschaftspanorama
Für das Manuskript seines neuen Romans „Für ein Leben“ erhielt Ulrich Woelk 2019 den Alfred-Döblin-Preis. Zwei Jahre später liegt das Werk beendet in seiner epischen Form von über 600 Seiten vor. Woelk erzählt die Geschichte von Niki und Lu sowie ihren Familien und dem näheren gesellschaftlichen Umfeld. Die Biographien seiner Protagonisten bettet der 1960 geborene Autor bisweilen in historische Zeitabläufe, beginnend mit der Wende im aufsehenerregenden Romanbeginn („Als Nikisha Lamont ihrem späteren Ehemann, Clemens Rubener erstmals begegnete, hätte sie ihm um ein Haar die Fruchtbarkeit geraubt. Das war im Winter 1989/90, kurz nachdem die Mauer zwischen Ost- und Westberlin gefallen war, politisch aber noch zwei Staaten existierten.“), rückblickend bis in die 50er-Jahre und im Epilog bis in die Zehnerjahre fortführend.
Das Leben von Niki und Lu
Niki, Tochter zweier Aussteiger, die sich im Paris der Existentialisten Ende der 50er kennenlernten und später um die ganze Welt zogen, wurde in Afghanistan geboren, verbrachte ihre ersten Jahre in Indien, wuchs in Mexiko auf und zog kurz nach der Wende nach Berlin, um in einem Krankenhaus im Wedding eine Assistenzarztstelle anzunehmen. Die angehende Schauspielerin Lu, die im Porno-Genre erste Erfahrungen vor der Kamera sammelte, verlor mit dreizehn ihre kroatische Mutter an den Krebs, musste fortan mit ihrem zwischen Alkohol und Wahn pendelnden deutschen Vater auskommen und wohnte sehr bald bei ihrem Nachbar Vic, der mit seiner bewegenden Ost-Vergangenheit genauso wie der von John Cage beeinflusste Komponisten-Nachbar Hans oder der sich selbst als Hippie bezeichnende Pater Leo zu den vielen bemerkenswerten Nebenfiguren des Romans zählt. Nikis und Lus Wege kreuzen sich, führen zusammen und trennen sich wieder.
Die Tragikomik des Lebens
Am Beispiel dieser zwei unterschiedlichen Frauencharaktere zeichnet Woelk ein detailliertes und mitreißend geschriebenes Gesellschaftspanorama zwischen bürgerlichen und alternativen Lebensformen, schicksalhafter Geschichte in der Zeit zweier deutscher Staaten sowie der Suche nach sexueller Identität. Der studierte Physiker und Philosoph, der 1990 mit dem Roman „Freigang“ debütierte, zeigt den Lesern einen prachtvollen Lebensentwurf voller tragikomischer Passagen („Als Niki mit ihren Überlegungen an diesem Punkt angekommen was – sie beatstete, wenn auch eher mechanisch, immer noch Clemens Rubeners Hoden – fragte sie sich, ob seine Beschwerden nicht auch eine indirekte Folge der politischen Ereignisse sein konnten. Schließlich hatten der Fall der Berliner Mauer und die politische Öffnung Osteuropas nicht nur für Menschen ein Hindernis aus dem Weg geräumt, sondern auch für Bakterien und Krankheitserreger.“).
Ulrich Woelk erschafft inspirierende Charaktere
Seine Zeitsprünge füttert Ulrich Woelk mit kulturell-adäquaten Strömungen von der Nouvelle Vague über die hippieske Gegenbewegung der 60er-Jahre bis hin zur alternativen Theaterszene Berlins der 80er. Sein geschickter Erzählaufbau lässt Woelk die Möglichkeit, einzelne, fast vergessene Kleinakteure später erneut gewinnbringend in Szene zu setzen. Ein schwungvoll und mit Esprit erzählter Roman voller außergewöhnlicher und inspirierender Charaktere. Am Ende heißt es über Nikis und Clemens‘ Sohn Pablo: „Er war froh, seine Geschichte zu kennen.“ Und wir können froh sein, diesen Roman lesen zu dürfen.
Ulrich Woelk: „Für ein Leben“, C.H. Beck, Hardcover, 632 Seiten, 978-3-406-77451-5, 26 Euro. (Beitragsbild von Bettina Keller)
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