Ralf Rothmann: Theorie des Regens

Ralf Rothmann credit Heike Steinweg Suhrkamp Verlag

Die Notizen von Ralf Rothmann in „Theorie des Regens“ oszillieren zwischen einer Art zweifelnder Scheu und nicht verhohlener Eitelkeit

von Britta Caspers

Sozusagen als ein Geschenk zum 70. Geburtstag Ralf Rothmanns im Mai dieses Jahres veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag Notizen des Autors aus einem halben Jahrhundert. Ein Geschenk ist diese Sammlung allerdings auch für Rothmanns Leserinnen und Leser. Viele der Notizen, die Ralf Rothmann seit den frühen 1970er Jahren gesammelt hat, haben Eingang gefunden in oder wurden zum Grundstein seiner Erzähltexte, nicht alle jedoch. So sei ihm, wie der Autor in einem Interview sagt, bei der Durchsicht seiner Hefte aufgefallen: „Da sind so viele schöne, lesenswerte Stellen darin, das wäre einfach zu schade, wenn die in der Dunkelheit irgendwelcher Archive verschwinden würden. So habe ich dann den Band mehr oder weniger chronologisch zusammengestellt.“

Und in der Tat erlaubt diese Anordnung der Fragmente ein Nachvollziehen auch der Entwicklung Rothmanns zu einem der bekanntesten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Neben Beschreibungen von Reisen (auf den amerikanischen Kontinent, Griechenland, Paris) finden sich Alltagsbeobachtungen, Traumfragmente, Reflexionen auf Bücher, Filme, Musik und knappe Aphorismen, die mal das große Ganze in den Blick nehmen, mal das ganz Unscheinbare.

Der Autor Ralf Rothmann

Ralf Rothmann Theorie des Regens cover Suhrkamp Verlag

Einem größeren Publikum wurde Rothmann zunächst mit seinen vier Romanen bekannt, die alle auf ihre Weise vom Aufwachsen im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebietes erzählen und dabei die 1960er und frühen 70er Jahre beleuchten, also die Zeit, in die auch Rothmanns eigene Jugend fällt. Allesamt sind sie stark autobiografisch geprägt, was den Schilderungen Glaubwürdigkeit und eine nahezu plastische Anschaulichkeit verleiht. Hervorzuheben sind hier die beiden Romane „Milch und Kohle“ (2000) und der von Adolf Winkelmann verfilmte Roman „Junges Licht“ von 2004, mit dem die Reihe der Ruhrgebietsromane – vorerst – schließt. Doch auch Rothmanns Berlin-Romane („Hitze“, „Flieh, mein Freund“ und „Feuer brennt nicht“) sind in unterschiedlicher Weise vom eigenen Leben und Erleben geprägt, halten sich dicht – und dennoch in einem gewissen zeitlichen Abstand, der den Blick schärft – an den zeithistorischen Entwicklungen und fangen selbst leichte Veränderungen der Atmosphäre einer Stadt ein.

Ralf Rothmann erzählt vom Erbe des Schweigens

Als im engeren Sinne historische Romane gelten dann Rothmanns literarische Bearbeitungen der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der sich unmittelbar anschließenden Jahre („Im Frühling sterben“, „Der Gott jenes Sommers“, „Die Nacht unterm Schnee“). Auch in diesen Büchern setzt sich der Autor, allerdings notgedrungen in einem höheren Grade fiktiv, mit der Lebensgeschichte seiner Eltern auseinander, die beide traumatisierende Erfahrungen in dieser Zeit machen mussten, die allerdings – nicht untypisch für diese Generation und das soziale Milieu, dem sie angehörten – in einem Schweigen und Verschweigen eingekapselt wurden, die den Schriftsteller-Sohn vor die Aufgabe stellten, diese ‚Leerstelle‘ schreibend zu füllen. Auf diese Weise, auch das hat Rothmann vielfach geäußert, habe er sich seinen Eltern nach deren Tod annähern, sich in gewisser Weise mit einem Leben versöhnen können, das dem Kind und wohl auch dem Erwachsenen eine Bürde gewesen sein muss.

Rothmanns Betrachtungen des eigenen Schreibens

Titelgebend für den Band „Theorie des Regens“ ist folgender Aphorismus: „Es gibt sie tatsächlich, die ersehnte Weltformel, die alles umfassende Theorie. Der Regen kritzelt sie in die Pfützen.“ Diese Formulierung lässt Rothmanns lyrische Anfänge als Autor durchscheinen, ja mehr noch: Sie erinnert von Ferne an die traditionelle japanische Gedichtform des Haiku, die wiederum in enger Beziehung zum Buddhismus steht, mit dem sich Ralf Rothmann unter anderem in seinem Roman „Milch und Kohle“ auseinandersetzt. Vielleicht ist dies eine der schönsten Erkenntnisse nach der Lektüre der „Theorie des Regens“: Noch die kleinsten Teile können, betrachtet man sie im richtigen Licht, Aufschluss geben über das Ganze des Werks. Zugleich lässt sich dieser Gedanke von einer in den Regen geschriebenen Theorie, einer sich beständig selbst auslöschenden Weltformel, als eine Würdigung des Ephemeren, des Vergänglichen und sich beständig Wandelnden verstehen, was ebenfalls auf ein charakteristisches Merkmal von Rothmanns Texten verweisen würde.

Diese nämlich oszillieren zwischen einer konkreten Dinglichkeit und einer Sphäre der Transzendenz, die gewissermaßen durch sie hindurchscheint (was gelegentlich, eher sinnverwirrend als klärend, als ‚magischer Realismus‘ bezeichnet wird).

Ralf Rothmann und die „Wahrheit aller Bücher“

An anderen Stellen kommen Rothmanns poetologische Ausführungen in den Sinn, wie er sie etwa anlässlich der Verleihung des Max-Frisch-Preises im Jahr 2006 formuliert hat. Darin konstatiert er, dass Poesie, folglich ebenso das eigene Schreiben, aus einem mystischen ‚Urgrund‘ stamme; Sprache, wo sie ihre poietische (also: erzeugende) Kraft entfaltet, steige aus der Sprach- und Wortlosigkeit des ‚reinen‘ Bildes empor. Zugleich formuliert Rothmann – wohl in einem bewussten circulus vitiosus – in poetischer Sprache eine Dimension, hinter der die „Wahrheit aller Bücher“ verblasse und mit der auch der Autor für sich Erkenntnisquellen beansprucht, die sich aller subjektiven Vermittlung entziehen. Solche Passagen bleiben opak und leben von ihrer Bildkraft: „Und auf diese Weise tiefer sprachlos betrachte man das Wesen erneut: Sogleich findet ein inneres Aufrichten statt, und vor dem leisen Schauer, der einem dabei übers Herz fahren mag, verblasst die Wahrheit aller Bücher.“

Rothmanns eigener literarischer Kosmos

Rothmanns Notizen sind zu einem guten Teil Selbstbefragung, sie oszillieren zwischen einer Art zweifelnder Scheu und nicht verhohlener Eitelkeit. In einer Vorbemerkung notiert Rothmann den Wunsch, dass die von ihm gesammelten und nun vorliegenden Erinnerungen, Segmente und Gedankensplitter, die sich einer Aufnahme und Verwandlung in die Form der Erzählung oder des Romans widersetzten, zum Ausgangspunkt für die Geschichten anderer werden. Dies ist als eine Einladung an die Leserinnen und Leser zu verstehen, die Bilder, Gedanken und Zwischenräume durch eigene Bilder und Vorstellungen zu füllen, die losen Enden hier und da miteinander und mit den Romanen und kleineren Erzähltexten des Autors zu verbinden.

Denn Rothmann hat im Laufe der Zeit seinen ganz eigenen Kosmos geschaffen – darin vielleicht vergleichbar mit Norbert Scheuer, dessen literarisches Schreiben ganz und gar dem Eifelstädtchen Kall, seiner Landschaft, seiner Geschichte und seinen Bewohnern gewidmet ist. Und es ist ganz gleich, durch welche der unzähligen Türen man Eingang findet und diesen Kosmos erkundet.

Ralf Rothmann: Theorie des Regens. Notizen. Suhrkamp Verlag 2023, 215 Seiten. ISBN: 978-3-518-22545-5, 24 Euro. (Beitragsbild von Heike Steinweg)

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