Norbert Scheuer: Mutabor

Norbert Scheuer Mutabor Cover C.H. Beck Verlag

Im Roman „Mutabor“ erschafft Norbert Scheuer einen ungeheuer komplexen Kosmos aus miteinander verwobenen Handlungen, Geschichten und Erzählungen

Mit „Mutabor“, seinem neuesten Werk, hat Norbert Scheuer nun insgesamt neun Romane verfasst, die dem Mikrokosmos Kall/Eifel, gewidmet sind. Findet der Leser durch einen dieser Texte – ganz gleich durch welchen – Eingang in diesen Mikrokosmos, begegnet er Figuren, die in den übrigen Texten erneut auftreten. So entsteht ein Komplex aus Lebensgeschichten und einer Vielstimmigkeit der Perspektiven. Woran der Autor seit Jahrzehnten schreibt, ist weniger eine Chronik des Eifelstädtchens und seiner Umgebung (des Urftlandes) als eine sich beständig verzweigende, vertiefende und sich stets aufs Neue selbst ergründende Genealogie, innerhalb derer Familienstrukturen und Verwandtschaften, vor allem aber Liebes- und Schuldverhältnisse zu Tage treten.

Norbert Scheuer errichtet ein Netz geheimer Beziehungen

All das ist eingebettet in Landschaftsreflexionen und ist nicht zuletzt auch eine Geschichte dieser Landschaft als einer vom Menschen industriell angeeigneten Natur. Denn Kall und das Urftland waren einst ein Gebiet, in dem Kupfer und Blei abgebaut wurden; noch immer sind sie durchzogen von einem unterirdischen Höhlensystem. Diese topografischen Strukturen bildet Scheuer in „Mutabor“ gewissermaßen narrativ nach: So erscheinen die aus Scheuers früheren Romanen bekannten „Grauköpfe“ – jene Alten, die ihre Tage in der Cafeteria des Kaller Supermarktes zubringen und miteinander über Gott und die Welt parlieren – wie das allzeit gegenwärtige Rauschen eines Wassers.

Und obwohl sie in diesem Roman nicht selbst zur Sprache kommen, setzt sich in „ihren Köpfen […] das Leben immerzu neu zusammen, als würde jemand auf einen riesigen Haufen Puzzleteilchen stets noch neue werfen, sodass das Bild verzweigter Verwandtschaften und geheimer Beziehungen ständig genauer und gleichzeitig unverständlicher wird.“ – Was zugleich eine treffende Charakterisierung des erzählerischen Werks des Autors ist.

Auf der Suche nach der eigenen Herkunft

Norbert Scheuer Mutabor Cover C.H. Beck Verlag

„Mutabor“ nun beschreibt die Suche einer jungen Frau (Nina) nach ihrer eigenen Geschichte, ihrer Familie, ihrer Vergangenheit, die für sie im Dunkeln liegt, da ihre Mutter verschwunden ist, als Nina noch sehr klein war. Nina hat nur vage und meist durch ihre epileptischen Anfälle evozierte Erinnerungen an sie. Der Vater ist unbekannt, als Chiffre dieser Figur fungiert die verblasste Fotografie eines Mannes mit ausgekratztem Gesicht hinter der Theke der Gaststätte des Ortes, die von dem Griechen Evros betrieben wird. Dort arbeitet Nina, nachdem sie früh am Morgen Zeitungen ausgetragen hat.

Zwar wächst Nina bei ihren Großeltern auf, doch auch dort findet sie weniger ein Heim als einen Unterschlupf; ihren Großvater liebt sie, doch die Großmutter lehnt das Kind ab. Von Nina wird diese nur die „Graie“ genannt; die Graien sind in der griechischen Mythologie gewissermaßen das personifizierte Alter, da sie bereits von Geburt an grauhaarig sind. Die physische Gewalt, die Nina bereits im Haus ihrer Großeltern erfährt, setzt sich fort, je älter das Mädchen wird, bis sie schließlich das Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch einige Jungen des Ortes wird. Ihre Rolle als gesellschaftlich Ausgestoßene und Entrechtete lässt sie überdies Formen von Gewalt erfahren, die durch gesellschaftliche Institutionen bedingt werden oder jedenfalls in diesem Rahmen stattfinden: So ist es nicht zuletzt eine Frau, die von Staats wegen berufen ist, das Mädchen zu beschützen und zu betreuen, von der Nina missbraucht wird.

Ein Ausweg aus Enge und Gewalt

In dem Beziehungsgeflecht, das sich um das Mädchen herum spinnt, tauchen jedoch auch einige Figuren auf, die Nina ihren vermeintlichen Makel nicht spüren lassen, ja ihr zugeneigt sind: Da ist vor allem die alte Lehrerin Sophia, von Nina kindlich „Tante Sophia“ genannt, die dem Mädchen zwar beharrlich ihr Wissen um das Schicksal der Mutter vorenthält, ihr jedoch auch einen Weg zeigt, der sich für Nina als das Rettende erweisen wird: Sie bringt ihr Lesen bei und vermittelt ihr die Liebe zum geschriebenen Wort. Durch sie findet Nina einen Weg zu ihrer eigenen Geschichte, die sie schließlich aufzuschreiben imstande ist. Auf bestürzende Weise verlaufen Sophias und Ninas Entwicklung gewissermaßen in umgekehrter Richtung: Während Nina zu einem Bewusstsein ihrer Selbst gelangt und sich aus der Enge und dem Dunkel zu befreien weiß, versinkt Sophia im Dunkel des Vergessens.

Norbert Scheuer erzählt die Genese einer Befreiung

Der Roman erzählt also die Genese von Ninas Befreiung im Medium der schriftlichen Aufzeichnung. Dabei kann sie sich auf mehr oder minder zusammenhanglose Notizen und Zeichnungen stützen, die sie als junges Mädchen, meist im Schulunterricht, angefertigt hat; rätselhafte Porträts und Bilder, mit denen sie ihre Tintenkleckse auszuschmücken beginnt. Diese von ihr zeichnerisch ausgestalteten Kleckse sind nicht nur Wege ins Unbewusste, sondern auch eine Brücke zur Schriftsprache.

Auch der Großvater ist für Nina eine wichtige Bezugsperson; er erweckt in ihr die Sehnsucht nach Byzanz, von dem er das Kind glauben macht, es läge gleich hinter der nächsten Biegung, und das sie gemeinsam zu erkunden aufbrechen, in dem alten und längst nicht mehr fahrtauglichen Opel Kapitän des Großvaters. Weit kommen sie auf ihren Reisen nicht, sie bleiben mit dem Wagen liegen und kehren nach Kall zurück. Doch für Nina soll das in der Zeit versunkene Byzanz zu einer Möglichkeit werden, sich von Kall und all den Bedrängnissen, denen sie dort ausgeliefert ist, zu befreien.

Metamorphosen

Doch bis dahin ist es ein langer Weg; vorher gilt es noch, die Liebe zu dem schönen und für Nina zunächst unerreichbaren Paul Arimond zu durchleben. Auch er ist bereits bekannt aus früheren Werken Scheuers, der Roman „Die Sprache der Vögel“ (2015) ist seiner Zeit als Sanitäter der Bundeswehr im NATO-geführten Militäreinsatz in Afghanistan gewidmet, aus dem Paul schwer verwundet in die Eifel und zu Nina zurückkehrt. Doch ist dies nicht das glückliche Ende der Geschichte. Denn dies liegt, wenn irgendwo, dann in der Selbst-Verwandlung durch das gesprochene und geschriebene Wort. In diesem Sinne ist auch der Titel des Romans zu deuten, der auf Wilhelm Hauffs Märchen „Kalif Storch“ verweist und so viel bedeutet wie: Ich werde verwandelt werden.

Norbert Scheuer und die griechische Sagenwelt

Das sich durch den Roman hindurchziehende Thema der Metamorphose findet seinen Ausdruck auch in der Verankerung einer in die Gegenwart projizierten Mythologie. Ähnlich wie in Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ (1988) begegnen uns in „Mutabor“ Göttinnen und Götter, Helden und Verlierer der griechischen Sagenwelt in einer anderen Zeit und in Gestalt der Bewohner des Eifelstädtchens. In den Schlupflöchern alltäglichen Lebens lauern rätselhafte und fremdartige Wesen. Nina selbst erscheint in der Darstellung von Evros als Zoe, einer hinzuerfundenen Tochter der enthaupteten Gorgone. Die Bezugnahmen und Anspielungen auf mythologische Zusammenhänge und Erzählweisen sind nicht nur ein Ausgriff ins Allgemein-Anthropologische, sondern stellen Flucht wie legitimen Ausweg zugleich dar. In der mythologischen Bildsprache lässt sich das Geschehen gleichermaßen enthüllen wie verbergen; nur auf diese Weise kann es für Nina zu einem Mittel werden, mithilfe dessen sie ein Selbst- und Weltverhältnis herzustellen imstande ist.

Wiederkehr des Verdrängten

Norbert Scheuer zeigt sich in seinem Roman „Mutabor“ keineswegs als ‚Heimatdichter‘, auch wenn er als Erzähler dem eigenen Lebensmittelpunkt ein weiteres Mal verpflichtet bleibt. Kall ist alles andere als ein idyllischer Ort, es ist ein Abgrund, ein tiefer dunkler See, dessen unbewegte Oberfläche zum Spiegel eines schrecklichen Geschehens wird, das nach und nach, doch stets bruchstückhaft, ja geradezu behutsam enthüllt wird. Scheuer führt diesen Prozess der Enthüllung einer kollektiven Schuld, die unauflöslich mit dem Schicksal von Ninas Mutter verbunden ist, mit einer Entwicklung parallel, welche die Gemeinde Kall und das umliegende Urftland beschäftigt: die Erweiterung des Stausees. (Jenes Stausees, dessen Damm im Zuge der Flutkatastrophe im Jahr 2021 gebrochen ist und ganze Teile der Ortschaft überflutet hat.) Um dieses Bauvorhaben zu realisieren, muss Wasser abgelassen werden – und dabei geraten Dinge ans Licht, die eigentlich entsorgt oder vergessen werden sollten.

Ein offenes Ende

Ob nicht am Ende, wie Nina es ausdrückt, alles nur ein Traum ist oder ob das Schicksal ihrer Mutter tatsächlich ans Licht gebracht ist – das bleibt letztlich offen. Jedoch tritt die Frage danach, was sich tatsächlich ereignet hat, gegenüber dem Prozess des Sich-Erinnerns, des Träumens und Schreibens in den Hintergrund. Eindeutige Schuldzuweisungen bleiben aus; was sich im Laufe des Romans stattdessen vor den Augen des Lesers herausbildet, ist ein ungeheuer komplexer Kosmos aus miteinander verwobenen Handlungen, Geschichten und Erzählungen. Was bleibt, ist das wunderbare Gefühl, den Figuren auf unverlierbare Weise nahe gekommen zu sein, sich mit ihnen ein ums andere Mal verwandelt zu haben.

Norbert Scheuer: „Mutabor“, C.H. Beck Verlag, München 2022, ISBN 9783406781520, Gebunden, 192 Seiten, 22 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

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