Ein großes Stück deutscher Literatur
von Gérard Otremba
Anti-Kriegsromane müssen sein. Diese Gattung darf nicht aussterben und Ralf Rothmann hat mit Im Frühling sterben einen nicht ganz unerheblichen Beitrag zu diesem Literaturgenre geleistet. Der 62-jährige Schriftsteller erzählt gar meisterlich die Geschichte der Freunde und Melkerlehrlinge Walter und Fiete, die im Februar 1945 als 17-Jährige zur Waffen-SS zwangsrekrutiert und nach einer dreiwöchigen Grundausbildung von Schleswig-Holstein nach Ungarn abkommandiert werden. Während Fiete das Grauen an der Front kennen lernt, wird Walter als Versorgungsfahrer mit dem Krieg konfrontiert. Obwohl Fiete das nahende Kriegsende durchaus bewusst ist, desertiert er und wird von den Feldjägern als „Fahnenflüchtiger“ verhaftet und nach Hitlers Parole „Ein Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben“ zum Tode verurteilt. So steht Walter schließlich seinem Freund Fiete beim Erschießungskommando gegenüber, denn alle seine Bemühungen, ihn vor dem Exitus zu retten bleiben ungehört.
Vielmehr erhält Walter noch einen Grammatikurzlehrgang von seinem Vorgesetzten, eine der eindrucksvollsten Szenen des Romans, die die Absurdität der Situation verdeutlicht und an Roberto Begninis cineastische Meisterleistung Das Leben ist schön erinnert, wenn Horst Buchholz in seiner Rolle als Hauptmann Dr. Lessing an der Lösung eines von Begnini alias Guido Orefice gestellten Rätsels verzweifelt. Im Frühling sterben ist außerdem eine berührende Vater-Sohn-Geschichte, berichtet der Ich-Erzähler zu Beginn des Romans über seinen dementen Vater, im großen Mittelteil über die Kriegserlebnisse und im Epilog über das Grab der Eltern. Es ist Ralf Rothmanns schonungsloser Realismus, der Im Frühling sterben zu einem außergewöhnlichen Stück deutscher Literatur macht. Rothmann reiht sich nahtlos ein in die Liste der großen Anti-Kriegsromane, von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, über Gert Ledigs Vergeltung, bis hin zu Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt. Es ist ein Mahnmal gegen das Vergessen, gegen die Grausamkeit des Kriegs, gegen wahnsinnige Befehle, gegen falsches Ehrgefühl, gegen die Diktatur des Bösen. Im Frühling sterben von Ralf Rothmann ist große Literatur.
Ralf Rothmann: „Im Frühling sterben“, Suhrkamp Verlag, Hardcover, 978-3-518-42475-9, 19,95 €.