Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

Judith Hermann credit Andreas Reiberg

Im Buch zu ihren Frankfurter Poetikvorlesungen schreibt Judith Hermann über „Menschen und Situationen“, die das Schreiben beeinflusst haben

Judith Hermann (geb. 1970 in Berlin) debütierte 1998 mit ihrem zum Bestseller avancierten Erzählband „Sommerhaus, später“ und hat seit dieser Zeit zwei Romane und drei Erzählsammlungen veröffentlicht. Der jüngst erschienene Band „Wir hätten uns alles gesagt“ basiert auf ihren im Sommer 2022 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen, deren Untertitel lautete: „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“.

Judith Hermanns Aufzeichnungen zwischen Erinnerungsarbeit und poetisch-poetologischer Reflexion

Judith Hermann Wir hätten uns alles gesagt Cover S.Fischer Verlag

In einer Art Prolog räumt die Autorin dann auch sogleich ein, das „Schreiben über das Schreiben“ sei in ihren Vorlesungen „offenbar und erwartungsgemäß eigentlich vermieden worden“, stattdessen gehe es in ihrer Darstellung um „Menschen und Situationen“, die das Schreiben beeinflusst haben. Was nach der Lektüre dieses beeindruckenden Buches widerhallt und zum Nachdenken anregt, sind Hermanns beständige Versuche, das Verhältnis von Schreiben und Verschweigen, von Sprechen und Verdrängen, von Preisgeben und Verhüllen auszuloten – und dies sowohl in Erinnerungserzählungen als auch in poetisch-poetologischen Reflexionen, die existenziell-philosophische Fragen berühren und denen man folgen und – wie wunderbar – in denen man sich bisweilen verirren kann.

„Diese ehrenvolle Aufforderung für eine Poetikdozentur ist kein Verhör, obwohl ich sie in gewisser Weise als eins empfinde: ich verhöre mich selbst. Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden. Eindrücke, Empfindungen, Gedanken, Ahnungen aus einem Damals. An die Konstitution einer Familie gebunden, deren Struktur ich nicht begründen werde.“

Judith Hermann zwischen Psychoanalyse und Schreiben

Mit diesen Worten positioniert sich die Autorin, bestimmt ihr Verhältnis innerhalb des inzwischen eigenständigen (und nichtsdestotrotz offenen) Genres der Poetikvorlesung, vermisst das Terrain. Dieses von Hermann so bezeichnete Selbst-Verhör, ihre Selbstbefragung, hebt nicht zufällig mit ihrer Erinnerung an die von ihr absolvierte Psychoanalyse an. Denn Psychoanalyse und Schreiben (zumal eines, das sich selbst erklären soll) sind eng miteinander verwandt: Hier wie dort autonomes Sprechen, das die eigene in vielfache Rollen aufgespaltene Person, das eigene Empfinden und Erinnern umkreist, dabei mitunter signifikante Leerstellen erzeugend. Die Anwesenheit des Analytikers, der zugleich abwesend ist, ist durchaus vergleichbar mit dem ebenfalls zugleich anwesenden wie abwesenden Adressaten des Schreibens, dem Leser.

Judith Hermann spricht sich aus

Und auch die Sorge der Autorin zu Beginn ihrer Analyse bei Dr. Dreehüs, ob sie nach der Analyse noch werde schreiben können, oder ob sie sich bei ihm im vollen Wortsinn aus-sprechen werde, also hinterher nichts mehr zu erzählen habe, lässt sich auf die Poetikvorlesungen, das Sprechen über das Schreiben, beziehen. Rund zehn Jahre nach der Analyse gelangt sie jedoch zu der Einsicht, dass sie womöglich das Zentrum – das, worum es im Grunde geht – für sich behalten habe. Dies mag auch als Hinweis für den Leser von „Wir hätten uns alles gesagt“ aufzufassen sein (und der Konjunktiv im Titel bestätigt es), dass auch in diesem außergewöhnlich persönlichen Buch das, worum es geht, zwar anwesend, aber zugleich unausgesprochen ist. – Was das Buch umso faszinierender macht.

Hermanns poetische Annäherungsbewegung an das eigene Leben, Lesen und Schreiben

Die Autorin stellt in ihren Poetikvorlesungen bewusst Verbindungen zu früheren Texten her, die allesamt charakterisiert sind durch eine zugleich lakonische wie poetisch-verdichtete erzählerische Annäherungsbewegung, in der die Autorin eher auf etwas deutet als es erklärt, in der sie etwas zeigen und es zugleich zum Verschwinden bringen kann. Eine wichtige Brücke zwischen damals und heute ist die Erzählung „Rote Korallen“, die den Auftakt in „Sommerhaus, später“ bildet. Und doch ist es gerade Hermanns zuletzt erschienener Roman „Daheim“, der mit ihrem neuen Buch aufs engste verbunden ist.

Das Leitmotiv in „Daheim“ ist die Kiste (vor allem die des Zauberers, mit der er seinen Trick von der ‚Zersägten Frau‘ vorführt), die als ein Bild für die existentielle Grundbedingung steht, in die sich der Mensch zu fügen hat; für die Zerrissenheit, die er erfährt in dem Moment, da er zum Bewusstsein seiner selbst gelangt. Die Kiste ist ein Symbol für das Geheimnisvolle; in ihr wird etwas aufbewahrt und den Blicken entzogen. Eine latente Bedrohung geht von ihr aus, ebenso Anziehung. In dieser doppelsinnigen Faszination liest sich auch Hermanns neues Buch, in dem sie analytisch in die Untiefen der eigenen (familiären) Vergangenheit hinabsteigt und dem Ungreifbaren und „Ungeheuerlichen“ Form verleiht.

Träume von Räumen

Sie taucht wieder ein in Räume, die sie als Kind und junge Erwachsene bewohnt hat, in die Neuköllner Altbauwohnung der Eltern, das vergangenheitsträchtige Sommerhaus der Familie an der Nordsee, das vom Vater für sie gebaute Puppenhaus. Dem äußeren Schein nach gleicht das Puppenhaus einem Lübecker Bürgerhaus, in dessen Innerem jedoch verbirgt sich eine zweite „Puppenstube der Verstecke“, „Räume hinter Räumen“, die Geheimnisse und Abgründe bergen. Hermann folgt Erinnerungen wie Spuren in Undurchdringliches, lässt sich ein auf Unverstandenes, Verschwiegenes, Verdrängtes. Den Leser erwartet mit „Wir hätten uns alles gesagt“ eine Fülle berührender Geschichten von Menschen, deren Wege sich kreuzen, auseinandergehen und sich erneut berühren. „Schreiben imitiert Leben, Verschwinden der Dinge, beständiges Zurückbleiben, Unscharfwerden, Erlöschen der Bilder.“

Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“, S. Fischer Verlag 2023, Hardcover, 192 Seiten, ISBN 978-3-10-397510-9, 23 Euro. (Beitragsbild von Andreas Reiberg)

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