Scott Alexander Howard: Das andere Tal

Scott Alexander Howard credit Veronica Bonderud

Ein genial konstruierter und sprachlich atemberaubender Debütroman des kanadischen Philosophen und Schriftstellers Scott Alexander Howard

von Gérard Otremba

Zeitreisen sind  natürlich per se ein fesselnden Thema. Vom literarischen Meisterwerk „Die Zeitmaschine“ von H.G. Wells bis zur grandiosen Filmerfolgstrilogie „Zurück in der Zukunft“ von Robert Zemeckis. Die Möglichkeit der Zeitreisen dient auch Scott Alexander Howard als Vehikel für den Plot seines atemberaubenden Debütromans „Das andere Tal“. So witzig wie in „Zurück in die Zukunft“ geht es bei Howard indes nicht zu. Ganz im Gegenteil. Ein beklemmendes Gefühl bleibt bereits beim Lesen der ersten Seiten zurück, obwohl das Dilemma, in das Howards 16-jährige Hauptfigur Odile bald gerät, erst nach gut 30 Seiten in den Mittelpunkt steht.

Identische Täler, verschiedene Zeitebenen

Scott Alexander Howard Das andere Tal Buchcover Diogenes Verlag

Odile lebt in einem Tal, das an andere, identische Täler grenzt, die, je nach östlicher oder westlicher Richtung, jeweils 20 Jahre in der Vergangenheit, bzw. 20 Jahre in der Zukunft liegen. Die Täler sind jeweils strengstens bewacht, die regierenden Instanzen darauf bedacht, alles im Ist-Zustand zu halten, könnte es doch zu verheerenden Veränderungen kommen, sollten die Menschen ungehindert von einem Tal ins nächste reisen und in die (eigene) Geschichte eingreifen. Nur in außerordentlichen Ausnahmefällen erlaubt das Conseil, eine mit weiten Befugnissen ausgestattete Aufsichtsbehörde, solche Reisen, beispielsweise bei einem erschütternden Trauerfall. Diese Personen werden dann eskortiert und unkenntlich im maskierten Zustand in das andere Tal geführt, um noch mal einen Blick auf die in ihrem Tal bereits verstorbene Person werfen zu können.

Genial aufgebauter Roman von Scott Alexander Howard

Durch Zufall begegnet Odile eben solche Zeitreisende und erkennt durch eine Unaufmerksamkeit eben jener die Eltern ihres Klassenkameraden Emde. Es geschieht also, was unbedingt hätte verhindern werden sollen. Odile indes lebt ab sofort mit quälenden Gewissenskonflikten. Einerseits möchte sie Emde, für den sie als pubertierender Teenager schwärmt, vor dessen Schicksal warnen. Andererseits durchläuft sie ein Auswahlverfahren für eine berufliche Karriere im Conseil, ein solcher Verrat an den bestehenden Regeln würde für sie das sichere Aus bedeuten. Odile entscheidet sich, den Tod Emdes nicht zu verhindern. Aber Scott Alexander Howard baut sein Romankonstrukt genial auf. Im zweiten Teil von „Das andere Tal“ begegnen wir Odile zwanzig Jahre später. Den eingeschlagenen Weg ins Conseil hat sie abgebrochen, stattdessen arbeitet sie  in einer harten, rauen und von üblen Machos beherrschten Welt als Grenzerin. Und erhält eine zweite Chance, in die Geschichte einzugreifen.

Scott Alexander Howard und die stimmungsvolle Sprache

Der kanadische Schriftsteller und promovierte Philosoph Scott Alexander Howard setzt sein geniales Konstrukt auch genauso genial um. Er spielt trickreich mit den Zeitebenen und besticht durch seine bildgewaltige, stimmungsvolle, empfindsame und symbolhafte Sprache. Howards Darstellungen können dann schon mal, wie im zweiten Teil, wenn Odile als Grenzerin der Natur ausgesetzt ist und mit ihren feindseligen Kollegen auskommen muss, mitunter gnadenlos ausfallen. Die Themen Zeit und Zeitreisen behandelt Howard mit philosophischer Bedeutungskraft, für die Leser nicht immer einfach, jedoch stets spannend zu verfolgen. Ein höchst faszinierender und großartiger Debütroman.

Scott Alexander Howard: „Das andere Tal“, Diogenes, übersetzt von Anke Caroline Burger, Hardcover, Hardcover, 464 Seiten, 978-3-257-07282-2, 25 Euro.  

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