Jonathan Franzen: Crossroads

Jonathan Franzen Crossroads Cover Rowohlt Verlag

In seinem überwältigenden Roman „Crossroads“ taucht Jonathan Franzen in die frühen 70er-Jahre und zeigt seine ganze erzählerische Klasse

Das Epische liegt ihm einfach. In der ausschweifendsten Form des literarischen Erzählens entwickelt Jonathan Franzen seine ganze Klasse und tritt seit einigen Jahren in die Fußstapfen seiner amerikanischen Kollegen Sinclair Lewis, Upton Sinclair oder John Steinbeck. Franzens drei zuletzt veröffentlichte Gesellschafts- und Familienpanoramen „Die Korrekturen“, „Freiheit“ und das von Sounds & Books rezensierte „Unschuld“ sprühen alle vor überbordender Fabulierlust- und Kunst und lassen alle Freunde detaillierter Ausführungen in Romanform jubeln. „Die Korrekturen“ sicherlich einer der bedeutendsten Romane des neuen Jahrhunderts, die beiden Nachfolger nicht minder faszinierend. „Crossroads“, dieser 830-seitige Wälzer und erster Teil einer Trilogie, scheint der Beginn seines ultimativen Opus Magnum zu sein.

Eine Familie am Scheideweg ihrer Existenz

Jonathan Franzen Crossroads Cover Rowohlt Verlag

Der 1959 in Maryland geborene Schriftsteller versetzt die Leser in seinem insgesamt sechsten Roman nach New Prospect, einer fiktiven Vorstadt Chicagos. Mehr als die Hälfte des Romans spielt an einem einzigen Tag, dem 23. Dezember 1971. Jonathan Franzen beleuchtet die Gegenwart der Pastorenfamilie Hildebrandt und erklärt in weitschweifigen Rückblicken den Status Quo der einzelnen Mitglieder. Wir begegnen den Hildebrandts auf dem Scheideweg ihrer Existenz. Zwischen dem Ehepaar Russ und Marion gärt es seit mindestens drei Jahren, als Russ in eine Krise schlitterte, nachdem ein jüngerer Pfarrer in seiner Gemeinde die sofort sehr beliebte Jugendgruppe „Crossroads“ gegründet und Russ den Bezug zu den Jugendlichen verloren hat. Als Endvierziger mitten in einer Midlife-Crisis angekommen, sucht er die Nähe zu der attraktiven und zehn Jahre jüngeren Frances.

Ein Affront, ein Gottestrip und ein jugendlicher Drogendealer

Seine gottesgläubige Frau Marion zieht nun ihre sonst nur halbherzig durchgeführte Diät durch und begibt sich auf die Suche nach einem einstigen Liebhaber. Ähnlich dysfunktional die Beziehung zu ihren Kindern. Während Clem sein Studium abbricht, um sich für den Vietnam-Krieg zu melden – ein böser Affront gegenüber seinen pazifistischen Eltern – geht die 17-jährige Becky bei „Crossroads“ auf, wo sie in Tanner die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben glaubt und nach dem ersten Joint auf einen Gottestrip gerät, während ihr zwei Jahre jüngerer, hochintelligenter, seine Mitmenschen manipulierender Bruder Perry seine Kasse als Drogendealer aufbessert. Abwechselnd taucht Jonathan Franzen in die inneren Welten dieser Protagonisten ein, lediglich Jay, der kaum zehnjährige und jüngste Spross der Familie bleibt hier außen vor und erscheint nur am Rand des Geschehens.

Der beste Jonathan Franzen aller Zeiten

Franzens Figuren wandeln zwischen Tragik und Komik auf ihrem Weg, gute Menschen sein zu wollen und hinterfragen ständig ihr Handeln und Denken. Franzen bürdet ihnen essentiell wichtige moralphilosophische Fragen auf, die er in seinem Roman vollkommen unironisch und mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit erörtert. Der Bestseller-Autor stellt eine typische, weiße und protestantische Vorstadt-Familie in den Mittelpunkt, die drei Jahre nach 1968 als Rollenbild längst an Einfluss eingebüßt hat. Das Innenleben der Hildebrandt-Familienmitglieder gehört indes zu den literarisch faszinierendsten des 21. Jahrhunderts. Jonathan Franzen zeichnet seine Charaktere in diesem fabelhaften Roman mit unerschöpflicher Menschenliebe, mögen sie, wie Perry, noch so sehr vom Pfad abkommen. Der beste Jonathan Franzen aller Zeiten. Und die Vorfreude auf die Fortsetzung treibt Franzen auf die Spitze.

Jonathan Franzen: „Crossroads“, Rowohlt, übersetzt von Bettina Abarbanell, Hardcover, 832 Seiten, 978-3-498-02008-8, 28 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

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