Peter Kemper: The Sound Of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz

Peter Kemper The Sound Of Rebellion Cover Reclam Verlag

Auf anekdotische Weise nähert sich der Philosoph und Soziologe Peter Kemper in „The Sound Of Rebellion“ dem Protestpotential des Jazz

von Sebastian Meißner

Anlässlich seines 100. Geburtstags im Jahr 2017 wurde in den Feuilletons weltweit die Frage diskutiert, inwieweit der Jazz seinen einstigen Stellenwert als einer Art Befreiungsmusik bzw. Soundtrack für den Kampf um freiheitliche Rechte noch immer gerecht würde. Wie immer bei solchen Diskussionen gab es keine einheitliche, ja nicht mal eine brauchbare Antwort. Wie auch? Die Gesellschaft ist heute eine andere. Und mit ihr haben sich Machtverhältnisse, Diskriminierung und Protest verändert.

Peter Kemper als versierter Erzähler

Peter Kemper, Philosoph, Soziologe, Autor und ganz offensichtlich glühender Musikliebhaber, umgeht diese Fallgruben und nähert sich dem Protestpotenzial des Jazz in seinem Buch „The Sound Of Rebellion“ klugerweise anekdotisch. Auf über 700 Seiten trägt er Beispiele (Personen, Kompositionen, Strömungen und Ereignisse) zusammen, in denen der Jazz Politik (mit)gemacht hat bzw. sein rebellisches Potenzial offenbar wurde. Kemper tut dies auf eine derart angenehm sachliche und kundige Art, dass die Lektüre auch erfahrenen Jazz-Hörer:innen zahlreiche neue Erkenntnisse schenkt. Gleichzeitig ist Kemper auch ein versierter Erzähler, dessen Beschreibungen und Kontextualisierungen die (oft lang vergangenen Episoden) lebendig machen kann.

Die Rebellion als Ausgangspunkt des Jazz

Die Diskussion um die politische Ästhetik des Jazz ist allemal lebendig. Das Aufbegehren, das Rebellieren ist Ausgangspunkt seiner Geschichte. Der Jazz sei während der plantation days, wie Duke Ellington in der Einleitung dieses Buch zitiert wird, „eine „Reaktion auf die Tyrannei“ gewesen, die Sklaven erdulden mussten und somit erzähle Jazz die Geschichte von Menschen, die „in ihrer Entwicklung gehandicapt und furchtbar unterdrückt wurden“. Später wurde er zum Soundtrack der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und in Europa zum Merkmal des zivilen Ungehorsams. Bis heute erzählt Jazz die Geschichten der Randständigen, Außenseiter, Unterdrückten – vorgetragen meist von eben diesen. Und eben oft auch Geschichten vom Umsturz.

Die gesellschaftliche Effekte des Jazz

Peter Kemper The Sound Of Rebellion Cover Reclam Verlag

Peter Kemper geht es nicht um eine vollständige Auflistung politischer Jazz-Momente. Vielmehr skizziert er anhand der gewählten Beispiele eine Theorie des Jazz in philosophischer und soziologischer Hinsicht. Er zeigt eben jene Begebenheiten, in denen der Jazz als Kunstform nicht nur metaphorisch wirkte, sondern ganz reale Effekte in der Gesellschaft auslöste. Dazu zählen unter anderem Billie Holidays „Strange Fruit“ als kulturelle Kriegserklärung an die Lynchmörder, Charlie Parker und Art Blakey und ihre stilistische Militanz, Abbey Lincoln und Max Roach und ihr „We Insist!“, Charles Mingus und seine Kreativität des Zorns, John Coltranes „Alabama“, Miles Davis und sein Tribut an den schwarzen Box-Champion Jack Johnson, Sun Ras Afrofuturismus, die Sound-Strategie von Pharoah Sanders und Cecil Taylor.

Aus dem Hier und Jetzt sind Shabakka Hutchings und Kamasi Washington dabei. Darüber hinaus bietet Kemper immer wieder interessante Ansätze für übergeordnete Ideen mit Aktualitätsbezug. So gibt es Überlegungen zum Feminismus im Jazz, zum Stellenwert in der Black Lives Matter-Bewegung oder zur Semantik von Sounds im Allgemeinen.

Peter Kemper und der Kontext

Was dieses Buch so gut macht, ist unter anderem seine Detailliebe. Kemper bleibt in seinen Analysen stets kontextgebunden und schafft es dennoch mühelos zu abstrahieren. Vor allem aber weckt er die Lust aufs (Wieder)entdecken und -hören dieser eminent mutigen und kraftvollen Musik. Vielleicht gibt es ja bald auch neue Überzeugungshörer: Noch liegt der Marktanteil des Jazz am Gesamtumsatz der Musik in Deutschland bei etwa einem Prozent.

Peter Kemper: „The Sound Of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz“, Reclam, Hardcover, 752 Seiten, 978-3-15-011324-0, 38 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

Kommentar schreiben