Drei Perspektiven, ein Portrait: Der österreichische Autor Jürgen Bauer überzeugt auch mit seinem vierten und bisher besten Roman
Jürgen Bauers Romane sind immer lohnenswert. Der 2015 veröffentlichte Roman „Was wir fürchten“ schaffte es sogar in meine Liste der Bücher des Jahres. Das zwei Jahre später erschienene „Ein guter Mensch“ verpasste dieses Ziel zwar nur sehr knapp, war aber trotzdem lesenswert. Grund genug, seinen neuen Roman ebenfalls näher zu betrachten. „Portrait“ heißt der erneut im Septime-Verlag erschienene, nunmehr vierte Roman des österreichischen Autors. Der 1981 geborene und in Wien lebende Schriftsteller zeichnet aus drei unterschiedlichen Perspektiven das Portrait des langsam in die Demenz fallenden Georg. Schriftliche Aufzeichnungen, die dem Portraitierten als Erinnerungshilfe für kommende Zeiten dienen sollen.
Die dörfliche Herkunft
Im Eröffnungskapitel erteilt Jürgen Bauer Georgs fast 90-jähriger Mutter Mariedl das Wort. Sie beginnt mit der Geburt ihres zweiten Sohnes zum Ende des Zweiten Weltkriegs und erzählt von schicksalhaften Jahren vor dem Krieg und von entbehrungsreichen Nachkriegsjahren als alleinerziehende Mutter, nachdem der alles andere als linientreue Vater, der sich vor den Nazis im Wald versteckte, dann doch die Flucht ergriff. Nur ein Jahre später angekommene Brief aus Frankreich weist auf seine Spur hin.
Georgs Mutter bewirtschaftet mit der Hilfe ihrer beiden Söhne mühsam den Hof im kleinen Dorf, während sein durchaus betuchter Onkel für die Schulkosten aufkommt und ihm seine spätere Karriere bis ins Ministerium in Wien ermöglicht. Mariedl entwickelt eine erhebliche Distanz zu ihrem Zweitgeborenen, dem sie die Entfremdung durch Bildung immer übel nahm und den sie schon zu Kindeszeiten als feinen Pinkel sah, der ihrer Meinung nach geworden ist. Aber sie ist seine Mutter und so gerät ihr Bericht zu einer burschikos-liebevollen Abrechnung mit ihrem Sohn. Verfasst in einer bäuerlichen O-Ton-Sprache, wie sie die Mutter nicht anders kennt.
Jürgen Bauer und die Musik
Anschließend erzählt Georgs Geliebter Gabriel aus seinem und ihrem gemeinsamen Leben. Auch Gabriel stammt vom Dorf und versucht die kleinbürgerlichen Fesseln in der Großstadt Wien zu sprengen. Bedeutet für ihn vordergründig das ungezügelte Ausleben seiner Homosexualität. Wir werden von Jürgen Bauer in das Wien der 70er-Jahre geworfen und folgen fasziniert Gabriels atemlosem, getriebenem Bericht. Eine rauschhafte Sturm-und-Drang-Phase für ihn und die Schwulenszene Wiens zwischen Aufbruch und Anfeindung, zwischen David Bowie und Leonard Bernstein.
Im dritten und letzten Teil des Romans erzählt Georgs Frau Sara ihre Sicht der Dinge auf die Zeit vor und mit ihm. Die gescheiterte, aus den Niederlanden stammende Opernsängerin mit österreichischen Wurzeln hat eine ähnlich unerquickliche Vergangenheit wie ihre Vorredner vorzuweisen, sie an der Seite eines cholerischen Korrepetitors, den sie lange Zeit nur aus Angst vor der Einsamkeit nicht verließ. Nach einer „Tosca“-Aufführung lernt sie Georg kennen, der Parallelen zu ihrem österreichischen Vater aufweist und den sie nach ihren Vorstellungen zu formen versucht. Und, egal was passiert, immer den Schein der Außendarstellung bewahrt. Ihre Erinnerungen formuliert Sara in einer formvollendeten, fast schon manierierten Präteritum-Form.
Ein abwechslungsreicher und unwiderstehlicher Roman
Die Erzählenden verraten natürlich viel von ihrem Leben und doch steht Georg stets im Mittelpunkt. „Portrait“ ist Jürgen Bauers literarisch höchst bemerkenswerte Abhandlung zum Thema Identität. In Georg begegnen wir einem vor seiner Herkunft flüchtenden Menschen, dem die eigene Mutter so peinlich zu sein scheint, dass er sie nicht zur eigenen Hochzeit einlädt. Ein ständig auch die eigene Identität suchender, eher zurückhaltender Protagonist, über den, obwohl er seine Sicht der Dinge nicht kundtun kann, ein aussagekräftiges Portrait entsteht. Ein stimmiger, aufgrund der drei unterschiedlichen Erzählweisen abwechslungsreicher, unwiderstehlicher und hervorragender Roman. Einmal mehr entpuppt sich ein Werk von Jürgen Bauer als Kandidat für die Liste der Bücher des Jahres.
Jürgen Bauer: „Portrait“, Septime, Hardcover, 312 Seiten, 978-3-902711-93-9, 22,90 Euro.
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