Marseille als kriminalistischer und kultureller Schmelztiegel
von Gérard Otremba
Mit seiner Marseille-Trilogie („Total Cheops“, „Chourmo“, „Solea“) hat bereits Jean-Claude Izzo der französischen Hafenstadt ein kriminal-literarisches Denkmal gesetzt. Der 1962 in Marseille geborene Xavier-Marie Bonnot setzt die südfranzösische Tradition fort und schickt Polizeikommandant Michel de Palma auf Verbrecherjagd. Dessen ersten Fall Der Große Jäger (frz. La Première Empreinte, 2002) hatte der Wiener Zsolnay Verlag im Jahre 2008 dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt, leider ohne Fortsetzung. Nun unternimmt der Schweizer Unionsverlag einen weiteren Anlauf und man kann nur hoffen, ihm möge mehr Erfolg beschieden sein. Die Melodie der Geister erschien im Original 2001 unter dem Titel Le Pays oublié de temps und ist der nunmehr fünfte Fall in der Reihe um den Protagonisten Michel de Palma, auch „Baron“ genannt. Dieser steht ein Jahr vor seiner Pensionierung und muss den Mord an Dr. Fernand Delorme aufklären, in dessen Kopf bei der Obduktion ein kleiner Holzsplitter, statt einer Kugel von Kaliber .22, wie das Einschussloch vermuten ließ, gefunden wird. Der fast 100-jährige Neurochirurg und Epilepsiespezialist war 1936 an einer Expedition nach Papua-Neuguinea beteiligt, bei der Erstkontakte zu einheimischen Dorfstämmen geknüpft worden sind.
Der Opernfreund de Palma begibt sich auf Quellensuche, liest das Logbuch des damaligen Schiffskapitäns, findet Verweise auf Sigmund Freud, Claude Lévi-Strauss und Margaret Meade und erfährt über Delormes Enkelin weitere Informationen über das Forscherleben des Verstorbenen, der mit Schädeln und Totenmasken der Papua-Eingeborenen handelte. Weitere Ethnologen und Kunsthändler finden einen ähnlichen Tod wie Dr. Delormes und Michel de Palma ermittelt fortan zwischen illegalen Kunstschmugglern, verfolgt von mystischen Flötentönen und mythenumrankten Geschichten über Kopfjäger in Papua. Xavier-Marie Bonnot hat mit Die Melodie der Geister einen besonnenen und geistreichen Kriminalroman geschrieben, der nicht vom Thrill lebet, sondern seinen Reiz durch interessante Figuren entwickelt, seine Faszination aus dem Gegensatz verschiedenartigster Kulturen gewinnt und als Milieustudie Marseilles dient, ohne jedoch zu weit abzuschweifen, die Auflösung des Kriminalfalles jederzeit verfolgend. Aus dieser Reihe dürfen weitere Romane übersetzt werden.
Xavier-Marie Bonnot: „Die Melodie der Geister“, aus dem Französischem von Gerhard Meier, Unionsverlag, Hardcover, 978-3-293-00484-9, 21,95 €.