Wilco live in Hamburg 2019 – Konzertreview

Jeff Tweedy Wilco Rolling Stone Weekender 2016 by Gérard Otremba

Eine Wilco-Sternstunde in der Hamburger Elbphilharmonie

Es passiert nicht alle Tage, dass Wilco noch vor Erscheinen ihrer neuen Platte eine Europa-Tournee ansetzen. Am 14.09.2019 trat das Sextett aus Chicago in der seit Monaten ausverkauften Elbphilharmonie in Hamburg auf, um ihr kommendes Album „Ode To Joy“ vorzustellen. Das pünktlich um 20 Uhr begonnene und zwei Stunden und zwanzig  Minuten dauernde Konzert erfüllte sämtliche, sehr hoch gesteckten Erwartungen an die seit 25 Jahren bestehende Band. Vorab brachten Wilco mit dem bei Sounds & Books vorgestellten „Love Is Everywhere (Beware)“ einen Ankündigungstrack aus „Ode To Joy“ heraus, ein ruhiges, filigranes Alt-Country-Folk-Rock-Stück, das in der Mitte des Sets seinen Platz fand.

Neue, demnächst erscheinende Songs

Auf das am 04.10.2019 erscheinende Album wies Sänger und Songwriter Jeff Tweedy erst kurz vor Ende des regulären Konzertes hin, als er das nachdenklich-verträumte „An Empty Corner“ ankündigte. Weitere neue Songs hinterließen einen ähnlich behutsamen, liebevoll arrangierten Eindruck. „Everyone Hides“ hinterließ bereits einen so vertrauten Eindruck wie ein Treffen mit guten alten Freunden, das wunderschöne „White Wooden Cross“ glänzte mit ergreifendem Liebreiz und zu Beginn leuchtete Gitarrist Nels Cline während „Bright Leaves“ feinsinnig den Weg, während Schlagzeuger Glenn Kotche mit simplen, trockenen, aber sehr effektiven Einsätzen auf sich aufmerksam machte. Die noch unbekannten Songs sind vom insgesamt über die Maßen begeisterten Publikum mehr als nur wohlwollend aufgenommen worden.

Wilco heben den Indie-Rock auf ein höheres Level

Seit 2004, als Gitarrist Nels Cline und Keyboarder und Gitarrist Pat Sansone zur Band stießen, spielen Wilco in der aktuellen Besetzung, zu der neben Sänger und Gitarrist Jeff Tweedy, der nicht viel sprach – große Worte auf der Bühne waren noch nie so sein Metier, diese schrieb er lieber auf und veröffentlichte sie unlängst als Autobiographie –, aber mit wenigen Sätzen die 2100 Gäste in der Elbphilharmonie vergnügte, noch Bassist John Stirratt sowie Keyboarder Mikael Jorgensen gehören. Die Wilco-Alben sind immer ein Genuß, ihre Live-Auftritte werden immer besser, bis hin zu phänomenal. Eine Sternstunde ihrer Performance-Kunst erlebten die Fans in der Hamburger Elbphilharmonie. Den Mittelpunkt eines jeden Wilco-Auftritts bildet „Impossible Germany“, bei dem Nels Cline mit seinem zwischen Poesie und Pro-Rock changierenden Gitarren-Solo den Indie-Rock seit Jahren auf ein höheres Level hebt. Das war auch in der Elbphilharmonie nicht anders, die tosenden Standing Ovations mehr als verdient.

Ein Erweckungserlebnis

Leider sitzt es sich in den Elbphilharmonie-Sesseln wahrlich mehr als bequem, weshalb die Gäste schnell wieder auf ihre Sitze hinabsanken. Doch sorgten sie auch im Sitzen für mächtig viel Stimmung und gaben sich dem versponnen „Reservations“ hin, schwebten mit „How To Fight Loneliness“ hinfort, goutierten Experimentelles („I Am Trying To Break Your Heart“, „Bull Black Nova“), bestaunten das ekstatische „Handshake Drugs“, klatschten sich die Hände wund bei „Hummingbird“ und waren Zeuge eines wie ein Erweckungserlebnis wirkendes, von Gänsehaut-Atmosphäre zu tranceähnlichen Zuständen  wechselndes  „At Least That’s What You Said“. Die Setlist an diesem Abend hatte schon was von einem Best-Of-Album. Und darauf darf natürlich das meisterliche „Via Chicago“ nicht fehlen, wenn Glenn Kotche seine Drums eruptiv und ausgelassen wie einst das Tier aus der Muppets-Show bearbeitet.

Ein Wilco-Geniestreich

Filigranes („Kamera“, „Jesus, Etc.“) und Roots-Rockiges („Box Full Of Letters“, „Theologians“, „I’m The Man Who Loves You“, „Random Name Generator“) gehörte ebenfalls zum Wilco-Programm. Im Zugabenteil „Ashes Of American Flags“ (neben „Impossible Germany“ der wohl beste Wilco-Song aller Zeiten) auf „California Stars“ folgen zu lassen, war schlicht ein Geniestreich. Am Ende noch ein gewohnt kerniges „The Late Greats“ und anschließend überall glückliche Gesichter. Die beste zeitgenössische Rockband der Welt hat sich mit diesem unwiderstehlichen und spektakulären Konzert noch mal selbst übertroffen. Wie ziehen den Hut und hoffen auf eine baldige Wilco-Rückkehr in die Hansestadt.

(Beitragsbild von Gérard Otremba, Archiv) 

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