Wilco: Hot Sun Cool Shroud – EP-Review

Wilco live Frankfurt Alte Oper 2022 by Gérard Otremba Sounds & Books

Ein Mini-Album ist für viele Fans weder Fisch noch Fleisch. Auch Wilco kommen uns jetzt mit dem umstrittenen EP-Format, einer Art „Cousin“-Bonus. Zum Glück sind gleich vier neue Songs künftige Band-Klassiker.

von Werner Herpell

An diesem Wochenende, dem letzten im Juni, wäre man verdammt gern in North Adams/Massachusetts. Wo ansonsten irgendwo im Nirgendwo der Hund verfroren ist (fünf Euro ins Phrasenschwein!), organisieren Wilco seit 2010 ihr eigenes „Solid Sound“-Festival. Und was ist das in diesem Jahr wieder mal für ein großartiges Line-up mit der Hausband selbst, den diversen Solo- und Nebenprojekten ihrer sechs Mitglieder, illustren Gästen wie Jason Isbell, Nick Lowe, Mary Halvorson oder Marc Ribot und einem tollen Kultur-Rahmenprogramm. Als wäre das alles des Guten nicht schon genug, gibt’s zum Festival frische Musik von der für viele (auch hier bei Sounds & Books) besten Band der Welt.

Wie im Sommer, wenn’s dunkel wird

Wilco Hot Sun Cool Shroud EP-Cover

„Hot Sun Cool Shroud“ heißt die knapp 18-minütige EP mit vier echten Songs und zwei eher kurzen Instrumentals, die durch ein „summertime-after-dark kind of feeling“ miteinander verbunden sind, wie Frontmann Jeff Tweedy in seinem Blog „Starship Casual“ schreibt. Und tatsächlich kann man dieses „Gefühl wie im Sommer nach Einbruch der Dunkelheit“ in einigen der Stücke eindrucksvoll spüren. Wilco haben ein Mini-Album für die wärmste Jahreszeit gemacht, ohne sich mit banaler musikalischer Sonnenanbetung eines „Like ice in the sunshine….“ zu begnügen. Na klar, warum sollten sie auch, es geht ja hier um die (siehe oben) beste Band der Welt.

Schon der Opener „Hot Sun“ (quasi auch Titelsong, die Lyrics enthalten den vollständigen EP-Namen) ist ein echter Wilco-Knaller – ein Song, der das auch hier bejubelte jüngste Album „Cousin“ sogar noch etwas besser gemacht hätte. Was steckt da alles drin! Man hört tatsächlich alle Zutaten eines abwechslungsreichen Sommertages in den herrlichen Harmonien und raffinierten Sounds dieses dreieinhalbminütigen Wunderwerks: die Wolken im düsteren Krautrock-Einstieg, der an „Spiders (Kidsmoke)“ erinnert; dann eine leuchtende Sixties-Pop-Sonne; danach wieder dunkle Wolken und nach zweieinhalb Minuten ein sich im Krach entladendes (Gitarren-)Gewitter. Und Jeff Tweedy begleitet den faszinierten Hörer mit seiner freundlich-melancholischen Stimme durch alle Stimmungen von heiß/einladend bis ungemütlich/bedrohlich.

Dahinschmelzen mit „Ice Cream“

„Livid“ nimmt die gewittrige Atmosphäre anschließend in einem fast punkigen Gitarrenrock-Instrumental wieder auf. Durchaus interessant, wie Wilco hier experimentierfreudig auf die Tube drücken, aber nicht unbedingt essenziell für die Lieblingslieder-Playlist. Ganz anders hingegen „Ice Cream“, eine der allerschönsten Balladen dieser mit Balladen insgesamt sparsam umgehenden Band. Zu einem reduzierten Arrangement zwischen Folk und Jazz evoziert Tweedy das Bild eines Mannes, der von einem geliebten Menschen zum Schmelzen gebracht wird wie Eiscreme in der Sonne. Das Bild lässt zwar kurz an den oben erwähnten furchtbaren Pop-Ohrwurm denken, ansonsten aber ist das hier ein ganz anderes Niveau. Zutiefst berührend, dieses Liebeslied. 

Mit dem treibenden, wieder Richtung Sonne driftenden Folkrock von „Annihilation“ folgt ein weiterer Track, der auf „Cousin“ nicht unangenehm aufgefallen wäre – im Gegenteil, dieses Stück klingt wie ein Album-Bonus (dass diese EP keine schnöde Reste-Rampe ist, dürfte inzwischen klar geworden sein). Wunderbare Gitarren-Arbeit von Nels Cline, Pat Sansone und Jeff Tweedy auch hier – drei Großmeister an den sechs Saiten, es ist der pure Wilco-Luxus.

Zum Schluss eine Beatles-Hommage von Wilco

„Inside The Bell Bones“ ist ein impressionistisches, abermals experimentelles, gleichwohl eher nebensächliches Instrumentalstück, ehe „Say You Love Me“ mit der vielleicht prächtigsten Beatles-Hommage in der Wilco-Geschichte den Sommertag beschließt. Ob sich die Band hier tiefer vor John Lennon oder vor Paul McCartney oder doch vor George „Here Comes The Sun“ Harrison verbeugt, ist gar nicht so wichtig. Ein berauschender Closer, der Zweifel am Zwischending-Format EP/Mini-Album in diesem besonderen Fall endgültig beseitigt.

Mit dem Programm „Wilco: Deep Cuts“ wurde das Solid Sound Festival am Freitagabend eröffnet – laut Setlist waren 26 eher selten bis fast nie gespielte Songs zu hören. Welche Band kann es sich schon leisten, bei so einer Gelegenheit auf aktuelle Stücke beziehungsweise kommende Live-Klassiker wie „Hot Sun“, „Ice Cream“, „Annihilation“ und „Say You Love Me“ zu verzichten? Wilco haben eine solche Klasse und Souveränität erreicht (und sich ein so anspruchsvolles, neugieriges und treues Publikum erspielt), dass ihnen auch ein Raritäten-Konzert ohne die üblichen Crowdpleaser und Neuheiten zum Triumph gerät.

Deutsche Fans warten auf Wilco und „Hot Sun“

Bleibt nur zu hoffen, dass die Rock-Virtuosen bald mal wieder nach Deutschland kommen (das Frankfurt-Konzert von 2022 ist ja noch in bester Erinnerung). Gern auch mit Songs von „Hot Sun Cool Shroud“ im Gepäck.

Das Mini-Album „Hot Sun Cool Shroud“ von Wilco ist vorerst nur digital auf den üblichen Musikplattformen und zum Download bei Bandcamp erhältlich. (Beitragsbild: Wilco live in Frankfurt, 2022, by Gérard Otremba)

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