Nach dem countryesken „Cruel Country“ zeigen sich Wilco auf dem 13. Album „Cousin“ wieder wesentlich experimentierfreudiger
von Gérard Otremba
„Sie sind so wandelbar, und es gibt diesen Faden der Authentizität, der sich durch alles zieht, was sie tun, egal welches Genre, egal wie die Platte klingt. Es gibt nicht viele Bands, die in der Lage sind, die Dinge erfolgreich zu verändern, obwohl sie so lange in einer herausragenden Karriere stecken“, sagt Cate Le Bon über Wilco. Und jedes Wort stimmt. Und weil hinter Wilco sechs virtuose Musiker stecken, die ihr Können seit über 20 Jahren stets in den Dienst der Mannschaft stellen, gehört die Gruppe aus Chicago zu den wichtigsten zeitgenössischen Rockbands. Viele (auch ich) behaupten, sie sei die beste zeitgenössische Band. Für diese Meinung muss man als Kritiker nicht mal jedes Wilco-Album zu einem Meisterwerk erheben, aber meistens bleibt
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einem gar nichts anderes übrig.
Das Beste der letzten 30 Jahre
Vielleicht fallen einzig das Debüt „A.M.“ (1995) sowie „Star Wars“ (2015) trotz natürlich auch dort vorhandener guter Songs nicht in die höchstwertige Kategorie. Von „Being There“, „Summerteth“, „Yankee Hotel Foxtrott“, „A Ghost Is Born““ sowie „Sky Blue Sky“ gehören allesamt zum Besten, was die Rockmusik in den letzten knapp 30 Jahren zu bieten hatte, die anderen Wilco-Alben liegen in der Wertung nur knapp dahinter. Alternative-Country, Sixties-Pop, Art- und Progessive-Rock, alles scheinbar kein Problem für Jeff Tweedy, Nels Cline, Mikael Jorgensen, Glenn Kotche, Pat Sansone und John Stirratt. Zuletzt erschien 2022 (digital) und im Januar 2023 auch physisch das countryeske und superbe Doppel-Album „Cruel Country“. In Interviews verriet Songwriter, Texter und Sänger Jeff Tweedy, eine weitere, eher artpoppige Platte sei in Arbeit. Und die heißt „Cousin“ und ist das 13. Album des amerikanischen Sextetts.
Wlico in Psychedelic-Gefilden
Und erneut ist es die von Cate Le Bon erwähnte Wandelbarkeit, die an diesem Werk so fasziniert. Besagte Cate Le Bon hat produziert, mitgespielt, den Saxophonisten Euan Hinshelwood mitgebracht und Wilco in weitere experimentierfreudige Gefilde geschickt. Der erste Vorabtrack „Evicted“ klang zwar noch wie ein verlorenes Outtake aus der „Cruel Country“-Session, deutete aber einen Psychedelic-Touch an. Diesen erweiterten die Herren im ebenfalls bereits veröffentlichten Titeltrack, der an die „Revolver“-Zeit der Beatles erinnerte. Der Opener „Infinite Surprise“ indes wartet mit Soundgefrickel aus der „Yankee…“-Phase auf, Krautrock und altbekannte Wilco-Risikobereitschaft also schon zum Auftakt. Das von einer kühlen New-Wave-artigen Drum-Machine begleitete „Sunlight Ends“ sowie das düster-spacige „A Bowl And A Pudding“ sind weitere vor Experimentierlust nur so sprudelnde Songs.
Ein hymnischer Wilco-Abschluss
Einige „Cousin“-Stücke geraten unfassbar düster, Jeff Tweedy singt ja immer sehr traurig, diesmal in „Ten Dead“ ganz besonders. In „Pittsburgh“ noch mehr, auch in „Levee“, allerdings hier von einer wesentlich fluffigeren und sehnsüchtigen Melodie eingefangen. Tweedy singt über die Liebe und den Verlust derselbigen, über die Hoffnung, das Warten und die Verzweiflung. Und wer jetzt denkt, das ist mir alles zu deprimierend (was es aber nicht wirklich ist), der hört sich das herzzerreißend schöne „Soldier Child“ an. Eine Schönheit, die sich immer wieder in den anderen, eher vertrackten Arrangements offenbart. Und am Ende wird es im geradezu fröhlich vorwärtspreschenden „Meant To Be“ sogar fast schon hymnisch. Wilco sind mit „Cousin“ irgendwo zwischen „Yankee Hotel Foxtrott“ und „The Whole Love“ angekommen, und haben also erneut ein herausragendes Album aufgenommen.
„Cousin“ von Wilco erscheint am 29.09.2023 bei dBpm Records / Sony Music. (Beitragsbild von Charles Harris)