Vom Herzensretter zum Weltenretter – Jan Plewka im Interview

Jan Plewka credit Oliver Fantitsch

„Wie eine Injektion“ – Jan Plewka beschreibt mit heiligem Ernst den Moment, als er zum ersten Mal die Stimme von Rio Reiser hörte. Seit 17 Jahren performt der Selig-Sänger die Musik von Ton Steine Scherben. Am 3. September erscheint sein Coveralbum „Wann wenn nicht jetzt“ als Doppel-LP. Im Gespräch mit Sounds & Books erklärt Plewka, warum die Texte des Königs von Deutschlands heute aktueller sind denn je.

Jan Plewka trug schon immer das Herz auf der Zunge. Der Selig-Sänger erzählt ohne Schamesröte von existenzieller Liebe und bitterem Schmerz. In den 90ern eroberte seine Band Selig mit „Ohne dich“ oder „Wenn ich wollte“ die Charts. Ihre Musik klang trotz deutscher Texte schon immer amerikanischer als die der meisten deutschen Bands mit englischen Texten.

Zum Videogespräch erscheint Jan mit Schirmmütze vor einer Tapete in batik-bonbonrosa. Anlass ist das „Scherben“-Coveralbum „Wann wenn nicht jetzt“. Mit seiner Band, der „Schwarz-roten Heilsarmee“, spielt Plewka darauf 17 Reiser-Songs live. Der Titel ist natürlich Querverweis auf das aktuelle Weltgeschehen. Rio Reiser, sagt er, begleite ihn schon sein ganzes Leben lang. Den Entdeckungsmoment beschreibt er so:

„Ich war 14 Jahre alt und ein Klassenkamerad legte eine ,Ton Steine Scherben‘-Platte auf. Seitdem bin ich infiziert. Rios Stimme ist wie ein Soundtrack zu meinem Leben. Alles, was wichtig war in meinem Leben, Rio war mit dabei. Ob ich in eine neue Wohnung gezogen bin, eine neue Freundin kennengelernt habe…“

Auf die Fresse bekommen

Wenn man Rio Reisers Texte gegenüberstellt mit den Texten, die Jan Plewka für seine Stammband Selig schreibt, dann sind da zweifellos Parallelen. Ob in Krieg oder Frieden, Liebe oder Hass – beide Sänger treten auf Atemdistanz an ihre Hörerschaft heran, befinden sich stets auf einer Gratwanderung zwischen kraftvoller Sprache und Pathos. Beide oszillieren zwischen Antipoden des größtmöglichen Gefühlsspektrums.

Diese Art über Liebe zu singen … er habe dafür ordentlich auf die Fresse bekommen, sagt Plewka, doch irgendwann erkannt, dass sie seinem Wesen entspreche.

„Wenn man nicht das tut, was seinem Wesen entspricht, dann macht das krank. Hat eine Weile gedauert, diesen Wahnsinn zu akzeptieren.“

Jan Plewka bei „Sing meinen Song“

Die Verbaldresche hat ihn zweifellos auch abgehärtet. Heute macht er, was er will. Z. B. bei der Vox-Realityshow „Sing meinen Song“ mitmachen, dort mit Nici Santos, MoTrip und Max Giesinger mehrstimmig singen und später von einer der tollsten Zeiten in seinem Leben zu sprechen. Man glaubt ihm das … und genauso glaubt man ihm, wenn er von der Vox-Stage in Südafrika zurückkehrt auf die Bühne des schummrigen Clubs, wo er ungeschliffen sein kann, wo der Bass bollert und die Gitarre kratzt: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht.“

Dieses rohe Gefühl ist auf „Wann wenn nicht jetzt“ gepresst. Bass, Gitarre, Schlagzeug – als melodische Garnitur Keyboard, Akkordeon, Flöte, Saxophon, Glockenspiel, Vibraphon, sparsam eingesetzt. Livemusik, die nicht mit Autotune zur Unmenschlichkeit verdreht ist, unperfekt, aber echt.

Sein Lieblingssong auf der Platte? Alles von Rio! Wenn Plewka über sein Idol spricht, dann spricht er mit der Stimme eines „glühenden Fans“, wie er es selber ausdrückt.

„Rios Stimme, diese Mischung aus Politik und Romantik, diese Utopien über die Menschheit … wahnsinnig anziehend. Er kennt die Dämonen, aber es gibt immer diese Hoffnung, den Riss in der Zeit, durch den die Hoffnung schimmert. Ich schreibe auch deutsche Texte, weil es Rio Reiser gibt.“

Die Welt muss gerettet werden

Seine eigene Hoffnung lenkt Plewka heute aber nicht mehr nur auf die Liebe. Er ist mit einer Schwedin verheiratet und Vater von vier Kindern. Man könnte sagen: gesettelt. Der Klimawandel ist ein Thema, das nun ganz oben auf seiner Agenda steht. Die Welt muss gerettet werden.

„Es bleibt keine Zeit. Jetzt müssen wir wirklich aufhören zu reden und handeln, sonst war‘s das. Leider sind die Texte von Rio noch immer hochaktuell. Das System hat sich seitdem nicht verändert, es ist eigentlich noch schlimmer geworden.“

Ob er das Gefühl habe, als Künstler selbst etwas bewegen zu können? Ja und nein.

„Wir als Künstler können wie Alchimisten sein, wir können das Üble einsaugen und daraus was Gutes machen. Wir können mit der Bahn fahren. Wir können das Fleisch von der Cateringliste streichen … wir können das aber nicht alleine machen!“

Plewkas Sympathie für Die Grünen

Mit „nicht alleine machen“ meint er, dass nun dringend die Politik die richtigen Hebel in Bewegung setzen und eine übergeordnete Struktur schaffen müsse. Er sympathisiert im Gespräch offen mit den Grünen – auch wenn sich ein Freudscher Versprecher in seinen Appell mischt, der das aktuelle Kandidatendebakel ganz gut subsumiert: Auch nicht „das Grüne vom Ei“ sei das, aber die Demokratie lasse sich darauf aufbauen.

An dieser Stelle offenbart sich eine Stärke Plewkas. Vom großen Ganzen findet er zurück zu den persönlichen Anekdoten. Storytelling würde man heute wohl sagen. Er erzählt von einem achtjährigen Jungen, der den Antikriegssong „Der Traum ist aus“ zum ersten Mal hört und sagt: „Mama, alle müssen dieses Lied hören!“ Dann gibt es diese andere Geschichte, in der ein Kind auf die Frage, was es machen würde, wenn die Welt nicht (!) untergeht, antwortet: „Oh, das wäre so toll …“ Es stellt die Frage nicht infrage.

Er erzählt auch die Geschichte, als er Katharina wiedergetroffen hat. Das Mädchen, für das er einst seinen ersten Liebessong schrieb. Katharina ist heute Schauspielerin. Man habe sich zu einem Schlossbesuch getroffen, das sei lustig gewesen. Beide hätten Kinder im gleichen Alter.

Die Liebe ist und bleibt zweifellos auch weiter ein wichtiges Thema in seinem Schaffen.

„Wenn ich sehe, wie viele sich in meinem Bekanntenkreis trennen, wie viele eine neue Beziehung anfangen und sich wieder verlieben. Liebe ist die größte Macht, die wir auf Erden haben. Die kann man immer anzapfen. Liebe ist immer da.“

Der analoge Mensch Jan Plewka

Das Gespräch geht noch ein bisschen weiter: Über den Soundcloud-Rapper Lil Peep und seinen tragischen frühen Tod mit 21 („der Grunge von heute“); über Bossa Nova, die Musik, die er privat am liebsten hört („Musik für die schönen, schlauen Frauen, schaltet die Sonne im Kopf ein“); über Spotify („ganz schlimm, was die mit uns Musikern machen … der Vorteil ist, dass man sehr viel Musik entdeckt und seinen wirklichen Musikgeschmack kennenlernt “) …

Jan Plewka ist zweifellos ein analoger Mensch. Er malt, sitzt gerne mit einem Stift vor seinen Büchern, unterstreicht Passagen. Das Internet mache alles so unsinnlich und freudlos, beklagt er, schöpft dafür gleich schöne Worte wie Dataismus und Sofortismus und erfindet die Allegorie durch den Raum fliegender Kreise (analog) im Gegensatz zu durch den Raum fliegenden Kästchen (digital). Diese Kreise seien einfach freundlicher in die Seele einzufügen, als scharfe kleine Kästchen. Er lacht. Er wird mit seiner Band noch viele Kreise produzieren.

Jan Plewkas Buchtipps für die Leser von Sounds & Books:

Der Gesang der Flusskrebse – Delia Owens
Offene See – Benjamin Myers
Hard Land – Benedict Wells

Zur neuen Platte: „Wann wenn nicht jetzt“ versammelt auf Doppel-LP / CD 17 Livetracks, die 2019 aufgezeichnet wurden und filmisch von Tom Stromberg festgehalten wurden. Die beiliegende DVD kommt mit fünf Bonustracks auf insgesamt 22 Stücke.

Info: Die Videoversion des Interviews steht auf der YouTube-Seite unseres Autors Jens Krüger bereit.

(Beitragsbild von Oliver Fantitsch)

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