Beim Überjazz 2024 erlebten die Zuschauer:innen die Vielseitigkeit des Jazz aus aller Welt in entspannter Atmosphäre.
Text von Sebastian Meißner, Fotos von Niko Schmuck und Wanja Wiese
Seit 2010 findet zum Jahresende das Überjazz Festival auf Kampnagel in Hamburg statt. An zwei Tagen zeigen verschiedene Acts aus allen Teilen der Welt, wie dehnbar der Begriff Jazz ist, wie fluide, verspielt und entwicklungsfreudig. Und: Es ist das entspannteste Festival der Stadt – höchst angenehmes Publikum, kurze Wege, top organisiert. In der Vergangenheit lockten die Veranstalter immer auch mit großen Namen, wie etwa Pharoah Sanders, Kae Tempest, Neneh Cherry oder José James. 2024, so merkten einige an, fehlt diese Art Headliner. Der Festivalqualität hat das aber in keinster Weise geschadet. Denn große Konzerte gab es dennoch zu sehen.
Flock und Moor Mother beim Überjazz
Dabei verlief der Freitag vergleichsweise ruhig. Die britische Superband Flock startete sphärisch und spirituell in ihr Set, verdichtete ihren Sound im Laufe der Spielzeit jedoch immer mehr und morphte ihn schließlich zum Club-Sound. Schon irre, wie hoch diese Band den Improvisationsanteil hält und wie entspannt sie dieses Risiko trägt. Einen ganz anderen Schwerpunkt hatte die US-amerikanische Künstlerin und Aktivistin Moor Mother. Bei ihr stand das Wort im Mittelpunkt. In ihren Texten beschäftigt sie sich vor allem mit Rassismus gegenüber schwarzen Menschen. In drastischen Spoken Words und mit dringlichen Gesten ähnelt der Gig einer Predigt.
Jazz, Folk, Cumbia und Post-Rock
Mit Spannung erwartet wurde auch der Gig von Sven Wunder. Beim Überjazz spielte der schwedische Komponist die fein arrangierte, lässig groovende Musik seiner vier Alben erst zum dritten Mal überhaupt live auf einer Bühne. Die anfängliche Bühnenscheu legte er nach und nach ab und überzeugte mit seiner tollen Band vollends. Mitreißend dann der Auftritt des brasilianischen Songwriters Rogê, dessen passionierter Gesang in Kombination mit dem unangestrengten Funk hervorragend harmonierte. Er präsentierte zudem einige Songs seines Ende des Monats erscheinenden Albums „Curyman II“. Ganz kuschelig wurde es bei Ibelisse Guardia Feeragutti & Frank Rosaly. Die in Bolivien geborene Sängerin und der Chicagoer Jazz-Schlagzeuger fusionierten Folk, Cumbia und Post-Rock-Elemente und waren vor allem in den ruhigen Momenten rührend. Und während die Ambient-Saxophon-Improvisationen der Künstlerin Cole Pulice eher sitzend verfolgt wurden, rissen Sonic Interventions mit ihrer energiegeladenen Show nochmal alle mit.
Weitere Glanzpunkte beim Überjazz
Der Samstag sollte dem noch einmal einen draufsetzen. Trompeter und Pianist Will Miller aus Chicago spielte mit seiner Band Resavoir noch am ehesten puristischen Jazz und hatte außerdem den besten Drummer des Festivals dabei. Während Farhot – auf einer Couch in der Mitte der Bühne sitzend – bei seinem Gig überraschend zahnlos blieb und phasenweise in Café del Mar-Sphären abzurutschen drohte, war Kassa Overall (wie schon im Vorjahr) einer der absoluten Glanzpunkte dieser zwei Tage. Was der Rapper und Drummer mit seiner Band auf die Bühne bringt, klingt in jeder Sekunde wagemutig, gefährlich, unberechenbar, bedingungslos und nach Aufbruch. Die Stücke seines letzten Albums „Animals“ sind mit nichts anderem auf dem Markt vergleichbar. Seine Shows auch nicht.
Ein gigantisches Finale
Stark auch die Bassistin Rosa Brunello, die im kleinsten Saal des Festivals ihren Körper im schweren Groove ihrer Band wog wie eine Boxerin im Ring sowie die Berliner Combo Aspik, die Musik spielen, die klingt wie eine sträflich übersehene End-70er-Jahre-Jazz-Funk-Platte. Der absolute Top-Act des gesamten Festivals aber beendete das offizielle Programm auf der großen Bühne im Hauptsaal. Kahil El‘Zabar kam 30 Jahre nach seinem letzten Besuch endlich mal wieder nach Hamburg und feierte zudem den 50. Geburtstag seines Ethnic Heritage Ensembles. Der Multi-Instrumentalist und seine drei Begleitmusiker (Trompeter Corey Wilkes, Saxophonist Alex Harding und Bassist Ishmael Ali) begannen ihr Set mit einer tiefbluesigen Version von „The Whole World“. Zabars gefühlvoller Gesang fesselte die Halle. Es folgte ein irre vielseitiges Set, in dem anarchische Avantgarde-Momente und liebliche Pop-Momente wie selbstverständlich nebeneinander standen. Ein wirklich ganz, ganz gigantisches Konzert.
Ende Oktober des nächsten Jahres geht das Überjazz in die nächste Ausgabe. Sollte man sich wirklich nicht entgehen lassen.
„Der Festivalqualität hat das aber in feinster Weise geschadet.“
Super Rechtschreibfehler, der mich mit dieser Rezension versöhnt.
„An zwei Tagen zeigen verschiedene Acts aus allen Teilen der Welt, wie dehnbar der Begriff Jazz ist.“ Ja, das wollte ich schon immer mal wissen, wie dehnbar so ein Begriff ist.
Vielen Dank für das aufmerksame Lesen. Der Tippfehler ist nun korrigiert. Viele Grüße, Gérard