Tocotronic sind auch nach 25 Jahren wild und gefährlich
Am Ende bleibt das große Gitarren-Feedback. Am Ende von „Freiburg“, der letzten Tocotronic-Zugabe beim Konzert am 17.03.2018 in der Großen Freiheit 36 in Hamburg. Es ist die zweite von drei ausverkauften Shows, die Tocotronic in ihrer Ursprungsstadt spielen. Natürlich immer noch ein Heimspiel für Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow, Gitarrist Rick McPhail, Bassist Jan Müller und Schlagzeuger Arne Zank, der unter den Tocotronic-Fans Kultstatus genießt. Das mittlerweile zumeist in Berlin lebende Quartett befindet sich auf der Tour zum neuen, auch bei Sounds & Books besprochenen, mal wieder meisterlichen Album Die Unendlichkeit.
Es ist die zwölfte Platte in nunmehr 25 Jahren Bandgeschichte und das zweite Nummer-1-Album in den deutschen Charts nach Schall & Wahn aus dem Jahre 2010 für Tocotronic. Erfolge und Jubiläen, die an einem Samstag im März 2018 würdig gefeiert und gerockt werden. Das beginnt bereits mit dem Support von Ilgen-Nur. Die nun in Hamburg lebende Songwriterin spielt im Vorprogramm mit ihrer dreiköpfigen Herrenband um Trümmer-Gitarrist Paul Pötsch ein paar sehr lässige Indie-Dream-Rock-Stücke, die teilweise im Shoegaze- und Post-Punk wildern. Das hier schon zum Song des Tages gekürte „Matter Of Time“ hat Hit-Charakter, aber auch „17“ und „Cool“ stehen dem Indie-Chic von „Matter Of Time“ in nichts nach. Ilgen-Nur hat eine charismatische Ausstrahlung, eine gewaltige Stimme und coole Songs, von denen einige noch nicht mal einen Titel haben. Aber das dürfte sich bald ändern und dann steht einer hoffentlich bemerkenswerten Karriere nichts mehr im Weg.
Auf dem neuen Tocotronic-Album Die Unendlichkeit schaut Dirk von Lowtzow auf verschiedene Stationen seines Lebens zurück und ähnlich aufgebaut ist die Setlist des Konzertes. Lediglich die Hälfte der zwölf Songs von Die Unendlichkeit findet sich darauf wieder, und adäquat zur Platte beginnt das Konzert mit dem kosmischen Titeltrack und endet mit der Grandezza von „Alles was ich immer wollte war alles“. Ein Showtreppen-Song im Indie-Format, der in der Frühphase der Band nicht möglich gewesen wäre, eine bewundernswerte Entwicklung in die richtige Richtung, die die Tocos in durchlaufen haben.
Sie spielen Songs von fast allen Alben, Hymnisches („Let There Be Rock“), Gewaltiges („Drüben auf dem Hügel“) und Tanzbares („Kapitulation“) bereits zu einem sehr frühen Stadium des Konzertes, später noch die Antwort „gegen den ganzen nationalistischen Quark“, wie Dirk von Lowtzow „Aber hier leben, nein danke“ ankündigt. Ein phänomenales „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“, ein erdbebenhaftes „This Boy Is Tocotronic“, ein rastloses „Zucker“, ein geprügelt-exzessives „Sag alles ab“ und ein donnerndes „Macht es nicht selbst“. Dazwischen betten sich die neuen Songs „Electric Guitar“, „Ich lebe in einem wilden Wirbel“, „Unwiederbringlich“ (Dirk von Lowtzow solo, der einzige ruhige Moment während es Tocotronic-Auftritts) sowie „Hey Du“, als ob sie schon immer dazugehörten.
Mit „Hi Freaks“ geht die Zugaben-Party los, ein stürmisch bejubeltes „Letztes Jahr im Sommer“, ein explosives „Explosion“ und am Ende bleibt das Gitarrenfeedback von „Freiburg“ im Ohr hängen, auch noch auf dem Heimweg durch das bitterkalte Hamburg. Auf dem Heimweg von einem Konzert, das einen wieder mal die Dringlichkeit und Wichtigkeit der Musik von Tocotronic spüren ließ. Ein feiner Querschnitt durch das letzte Vierteljahrhundert des Tocotronic-Schaffens. Einst was das mal die Hamburger Schule, nun ist längst das Studium abgeschlossen und die Diplome hängen an der Wand. Wie schnell die Zeit vergeht. Aber wild und gefährlich sind Tocotronic immer noch.