tindersticks live in Hamburg

Die Chefmelancholiker live im Hamburger Thalia Theater

von Gérard Otremba

Tindersticks
Foto: Chrisophe Agou

Das ist natürlich ein irrer Sprung, vom Underground des Uebel & Gefährlich 2010 hin ins klassische Thalia Theater 2012. Ein Ortswechsel, den auch nur eine Band wie tindersticks schafft. Aber das Ambiente des Thalia Theaters ist natürlich wie geschaffen für die Musik der notorischen Schöngeister aus England. Schmerzhafte Romantik wird bei der Band aus Nottingham nun bereits seit 20 Jahren groß geschrieben, insofern paßt die Theater-Bühne, auf der sonst ein Heinrich von Kleist geehrt wird, nur zu gut als Rahmen eines tindersticks-Konzertes.

Der Eröffnungssong „Blood“ als Konzertwegweiser

Ganz weit in die Vergangenheit entführen Sänger Stuart A. Staples, Keyboarder David Boulter, Bassist Dan McKinna, Schlagzeuger Earl Harvin und Gitarrist Neil Fraser das Hamburger Publikum mit dem Eröffnungssong „Blood“. 1993 auf dem ersten tindersticks-Album verewigt, gehört „Blood“ vielleicht nicht zu den Band-Klassikern wie „Patchwork“, „Marbles“ oder „City Sickness“, aber um so spannender die verspielte Zartheit dieses Songs zu vernehmen, durchaus ein Zeichen für die kommenden 90 Minuten des Gigs. Die Stimme von Stuart Staples wird schön in den Vordergrund gemischt, sein belegter Nuschelgesang dadurch jedoch nicht wesentlich verständlicher. Und schon sind wir mitten im Zauber seiner Band tindersticks.

Die verträumten und pulsierenden tindersticks

Denn verträumt geht es weiter mit „If You’re Looking Far Away Out“ vom 1999er-Album Simple Pleasure, gefolgt vom nicht minder leisen und vom Glocken- und Orgelspiel begleiteten „Dicks Slow Song“, womit Staples und seine Streiter wieder zwei Jahre zurückspringen zur Curtains-LP von `97. Mit „Chocolate“ beginnt der erste ausführliche Konzertteil, der dem neuen Album The Something Rain gewidmet ist. Hier greift auch Saxophonist Terry Edwards ins Spiel ein, der aus der von David Boulter erzählten Geschichte ein furios avantgardistisches (Semi-)Finale strickt. „Show Me Everything“ beginnt geheimnisvoll und endet im großen Crescendo. „This Fire Of Autumn“ pulsiert und treibt voran bis zum Trancezustand, während „A Night So Still“ in schönster Melancholie badet.

Songs aus dem neuen Album The Something Rain

Ein herzallerliebstes Kleinod bieten die Engländer anschließend mit „Don’t Ever Get Tired“ aus dem Album Can Our Love… und lassen das opulente Drama mit „I Know That Loving“ folgen. Mit „Slippin‘ Shoes“ enthusiastisch wieder zurück in der musikalischen Gegenwart angekommen, mit „Frozen“ endgültig in weit entfernte Galaxien verschwindend, für tindersticks-Verhältnisse ein faszinierender Ausflug in Psycho-Art-Rock-Gefilde. Der Abschluss bleibt dem sehnsüchtigen Saxophon-Spiel von Terry Edwards vorbehalten. Edwards veredelt das sowieso schon erhabene „Come Inside“ zur Krönungsmesse.

tindersticks verpflichten sich dem Wahren, Guten und Schönen

Aufgekratzt, dämonisch, schräg und abgefahren die erste Zugabe „4:48 Psychosis“, so dass auch die 2003er-CD Waiting For The Moon an diesem abend zu Ehren kommt. Mit „Cherry Blossoms“ ist das zweite tindersticks-Album von 1995 vertreten, einer dieser typischen tindersticks-Songs mit dem “Ich-werfe-mich-gleich-aus-dem-Fenster-und-fühle-mich- gut-dabei“-Stempel. In die Nacht entlassen werden die Fans mit „Medicine“, bei dem das Sehnsuchtssaxophon von Terry Edwards wieder in den Mittelpunkt rückt. Lediglich das Fehlen der oben genannten Klassiker wirft einen kleinen Schatten auf das sonst so makellose Konzert. Aller depressiven Züge zum Trotz, sind tindersticks dem Wahren, Guten und Schönen verpflichtet und legen an diesem Abend mal wieder Zeugnis davon ab.

Kommentar schreiben