Ein bravouröses, unwiderstehliches soziales Sittengemälde von Thorsten Nagelschmidt
Am Ende der Nacht, dem „Moment im Ziellicht, nicht mehr Nacht, noch nicht ganz Tag“, sorgt Sabrina für die Aufräumarbeit. Mit ihrem Kehrwagen fährt sie die Schlesische Straße in Berlin-Kreuzberg ab und erhascht einen Blick auf die letzten Geschehnisse der turbulenten zwölf Stunden davor. Sabrina ist der fehlende Mosaikstein in Thorsten Nagelschmidts bravourösem neuem Roman „Arbeit“, der kurz nach 18 Uhr an einem ungewöhnlich warmen Freitagabend, zwei Tage vor Frühlingsbeginn, einsetzt. Nagelschmidt, der mit seiner Indie-Rock-Band Muff Potter nach elf Jahren Pause mit dem Song „Was willst du“ im April ein aufsehenerregendes Comeback gab, begleitet seine Protagonisten den anschließenden Abend und die Nacht hindurch.
Die Nachtarbeiter Berlins
Obwohl ein Club mit dem Namen „Lobotomy“ eine wichtige Rolle im Roman spielt, stellt Thorsten Nagelschmidt nicht Berlins Partyvolk in den Mittelpunkt seines fünften Prosawerks (die ersten drei erschienen unter dem Alias Nagel), sondern beschäftigt sich mit Nachtarbeitern, die dem Kreuzberger Kiez einen anderen Stempel aufdrücken. Eine illustre Schar an Figuren schart der 1976 im Münsterland geborene Autor, Musiker und Künstler auch ohne die sich hier mit einer Nebenrolle zufriedengeben müssenden Feierbiester für diesen intelligent konzipierten Episodenroman zusammen.
Thorsten Nagelschmidt fängt seine Charaktere intensiv ein
Eine von ihnen heißt Hans-Georg Bederitzky, der seine Nachtschicht als Taxifahrer beginnt. Er stammt aus dem Osten der Stadt, durfte im Sommer 1988 in den Westen ausreisen, erlebte das Pink-Floyd-Konzert vor dem Reichstag, verpasste aber somit den Auftritt von Bruce Springsteen im selben Jahr am Weißensee. Dort zugegen war indes sein Fahrgast, den er ausgerechnet ins verhasste Halle an der Saale kutschiert, wo er nach der Wende eine unerfreuliche Zeit als Toningenieur beim MDR verbrachte. Bederitzky ist liiert mit Anna, der Besitzerin eines Spätis, die, wie häufig zuvor, auch in dieser Nacht Opfer eines Überfalls wird und einen Nervenzusammenbruch erleidet. Nur notdürftig können ihr die junge und ambitionierte Polizistin Christina sowie ihr routinierter, aber in die Jahre gekommener Streife-Partner helfen. Nagelschmidt stellt die wichtigsten Personen in einzelnen Kapiteln vor und lässt ihre Wege miteinander kreuzen. Manche erscheinen noch namenlos als Randfiguren in den Storys anderer, entwickeln aber später ihre Eigendynamik. Menschen unterschiedlichster Colour, deren Charaktere Thorsten Nagelschmidt intensiv einfängt.
Zahlreiche Hauptprotagonisten
Zu ihnen gehören u.a. die Notfallsanitäter Tanja, die den Traum von einem Medizinstudium nicht aufgibt, und der in sie verliebte Kollege Tarek. Die aus Kolumbien stammende Marcela arbeitet für ein Fahrradlieferservice, gerät im Straßenverkehr an eine überkorrekte deutsche SUV-Fahrerin und macht sich so ihre Gedanken über kaputte Radwege in der Hauptstadt und die unterschiedliche Lebensauffassung von Deutschen und Südamerikanern. Ten hingegen, der deutsch-afrikanische Türsteher des „Lobotomy“, stellt sich im Dienst die Frage, ob seine dunkle Hautfarbe vorteilhaft für seine Einstellung war, während Club-Stammgast und „Dealer mit Stil“, der freiheitsliebende Felix, der an seinem Leben auf der Überholspur fast draufgegangen wäre und ausgerechnet einem Knastaufenthalt die Rettung verdankt, an diesem Abend nach längerer Abstinenz einen bewußt vorgenommenen Drogenrückfall erleidet.
Eine sarkastische Buchhändlerin
Von anderen Problemen geplagt wird Buchantiquariatsbesitzerin Ingrid, die ihre prekäre finanzielle Situation auch vor Kunden nur noch mit Sarkasmus begegnen kann, voller Überzeugung vom Kauf des Rainald-Goetz-Romans „Rave“ abrät und nachts Flaschenpfand sammelt, nur um sich mal eine Kinokarte leisten zu können: „An einem Hausgerüst an der Ecke endlich wieder Beute. Fünfmal Bier, zweimal Mate. Sie packt alles ein und stellt die Tasche auf die Ladefläche. Die Kinokarte bis zur Schlesischen, das wäre schön. Hat sie sich so angewöhnt, in Kinokarten rechnen, es gibt ihr Struktur und Halt“.
Thorsten Nagelschmidt beleuchtet Konflikte, Dramen und Tragödien
Fasziniert folgen wir den zahlreichen Romanhelden durch ihren ganz normalen, in diesem Fall, allnächtlichen Wahnsinn. Thorsten Nagelschmidt konfrontiert uns mit Realisten, Träumern und jugendlichen Kleinkriminellen – die an einem für sie normalen „Abziehfreitag“ ihren Geschäfte nachgehen -, deren Background, Konflikte, Dramen und Tragödien er präzise, sowie sprachlich der jeweiligen Personen angemessen, beleuchtet. Und so ein unwiderstehliches, soziales Sittengemälde mit wirkungsvollen Bildern der nächtlichen Großstadt entwirft. Der perfekte literarische Spagat zwischen „Berlin Alexanderplatz“ und „Herr Lehmann“.
Thorsten Nagelschmidt: „Arbeit“, S. Fischer, Hardcover, 336 Seiten, 978-3-10-397411-9, 22 Euro. (Beitragsbild: Verena Brüning)
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