The Lemon Twigs: Everything Harmony

The Lemon Twigs credit Hilla Eden

Alles ist Harmonie auf dem vierten Studioalbum des immer noch sehr jungen Brüder-Duos The Lemon Twigs. Ihr perfektionistischer Retro-Pop kann restlos begeistern – oder auch mal nerven.

von Werner Herpell

Die zitierwütige Zeitreise des Brüder-Duos Brian und Michael D’Addario alias The Lemon Twigs geht weiter. Auf ihrem vierten Album seit dem erstaunlichen Studio-Debüt „Do Hollywood“ (2016) provozieren die beiden Mittzwanziger aus Long Island/New York erneut – sogar mehr denn je – eine Sturzflut von Vergleichen mit Pop- und Rock-Ikonen der 1960er und 1970er Jahre. Beispiele gefällig?

Vergleiche von Brian bis Phil

The Lemon Twigs Everything Harmony Cover Captured Tracks

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„Paste“ wartet in seiner großen Story über „the new princes of Rock ’n‘ Roll“ mit folgenden Referenznamen auf (hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit gelistet): Brian Wilson und The Beach Boys, Paul McCartney und die Wings, David Bowie, Marc Bolan, Big Star, Bee Gees, Squeeze, Eric Carmen und die Raspberries, Simon & Garfunkel, Todd Rundgren und Utopia, Van Dyke Parks, The Move, Syd Barrett, Phil Spector. Das Verrückte daran: Für jeden dieser Bezugspunkte lassen sich Belege finden in den 13 Tracks von „Everything Harmony“, dem kongenial betitelten, weil fast schon absurd harmonietrunkenen neuen Werk der Lemon Twigs.

Dass die D’Addarios tolle Rückspiegel-Songschreiber sind, wusste man spätestens nach den im sehr jugendlichen Alter veröffentlichten Album-Vorläufern „Go To School“ (2018) und „Songs For The General Public“ (2020). Aber jetzt treiben sie es auf die Spitze mit ihrem Melodien-Erfindungsreichtum und ihrem geradezu manischen Studio-Perfektionismus.

„Everything Harmony“ fasziniert oder nervt

Entweder liebt man (wie der „Paste“-Kollege) diesen ambitionierten Versuch, wirklich jedes Detail, jedes Arrangement, jeden vokalen oder instrumentalen Exzess einer klassischen Barockpop-, Glam-, Folkrock- und Powerpop-Platte der Sixties oder Seventies zu reproduzieren. Oder man ist der epigonalen Aufdringlichkeit mancher Lieder inzwischen überdrüssig (wie der leicht genervte „Rolling Stone“-Renzensent). Der Autor dieser Zeilen gibt zu, dass er sich – trotz des manchmal durchaus fragwürdigen Retro-Irrsinns der Lemon Twigs – einer gewissen Faszinationskraft dieser sommerlichen Pop-Harmonien, der formidablen Vocals und der fetten Produktion von „Everything Harmony“, dessen Vorabtrack „Corner Of My Eye“ Sounds & Books als Song des Tages vorgestellt hat, kaum entziehen kann.

Textlich ist freilich keineswegs immer Sonnenschein bei den Lemon Twigs – das neue Album schwankt „zwischen Momenten der Depression und Isolation und Episoden von schwindelerregender Euphorie“, wie das Label Captured Tracks betont. Die Platte wurde in Manhattan, Brooklyn und den Hyde Street Studios von San Francisco geschrieben, aufgenommen, produziert und bearbeitet.

Lemon Twigs hatten „echt Glück“ mit den Eltern

Die Brüder selbst haben übrigens kein Problem mit der naiven Sehnsucht nach einer Pop-Vergangenheit, die weit vor ihren Geburtsjahren 1997 und 1999 liegt: „Wir hatten echt Glück, dass unsere Eltern einen großartigen Geschmack hatten und uns jedes Beach-Boys-Album näherbrachten“, sagt Michael D’Addario (24) im „Paste“-Interview. Man mache diese Art von Musik jetzt schlicht und einfach, weil man „besessen davon“ sei.

Wie hoch geschätzt die beiden jungen Musik-Zeitreisenden auch unter Kollegen sind, zeigte sich, als sie kürzlich ihre Parts zum Weyes-Blood-Meisterwerk „And In The Darkness, Hearts Aglow“ (2022) sowie zu Todd Rundgens jüngstem Album „Space Force“ beisteuern durften. Die Story der „Zitronenzweige“ dürfte also noch lange nicht auserzählt sein. 

„Everything Harmony“ von The Lemon Twigs erscheint am 05.05.2023 bei Captured Tracks/Cargo.

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