The Delines im Interview

The Delines by Jason Quigley

Wunderschöne Lieder in Short-Story-Form machen The Delines auch auf ihrem grandiosen neuen Album. Wir haben Songwriter Willy Vlautin und Sängerin Amy Boone dazu befragt.

Interview von Werner Herpell

Wer dieses Jahr ein schöneres, wärmeres, herzergreifenderes Americana-Album vorlegen will als dieses hier, muss sich verdammt anstrengen: Mit „Mr. Luck & Ms. Doom“ erreichen The Delines aus Portland/Oregon ein neues Level – und das will etwas heißen angesichts meisterhafter Vorgängerplatten wie „The Imperial“ (2019) und „The Sea Drift“ (2022).

Ein Frontmann macht freiwillig Platz

Der Beginn von The Delines vor gut zehn Jahren war schon ungewöhnlich: Da trat ein Band-Leader (Willy Vlautin) freiweillig zurück in die zweite Reihe und überließ einer Frau (Amy Boone) das Rampenlicht, weil die seine Lieder einfach besser singen konnte. Der langjährige Frontmann der Folkrock-Truppe Richmond Fontaine wusste, nachdem er die emotional tiefgründige Stimme von Amy Boone gehört hatte: Die will ich haben für meine traurigen Songs über die Beladenen und die Verlorenen, über die Kehrseite des „American Dream“. Fortan beschränkte sich Vlautin auf die Rolle des Songwriters und Gitarristen der Delines.

Als Schriftsteller hatte er schon 2005, mit dem später verfilmten „The Motel Life“, Erfolg. Weitere wunderbare, an John Steinbeck oder Raymond Carver erinnernde Bücher wie „Lean On Pete“ (zu Tränen rührend auch als Film), „The Free“, „Don’t Skip Out On Me“, „The Night Always Comes“ und zuletzt „The Horse“ (2024) kamen hinzu. Warum diese Roman-Titel unbedingt allesamt genannt werden müssen? Weil sie in enger Beziehung zu den Songs und Alben stehen, die The Delines seit Jahren aufnehmen. Und weil sie auch in dem Gespräch auftauchen, das wir mit Willy Vlautin und Amy Boone führen konnten.

Country und Soul – und noch viel mehr

Hallo Amy und Willy, schön, euch kennenzulernen.

Das angesehene Online-Magazin „Allmusic“ schreibt über eure Band: „The Delines aus Portland/Oregon verbinden Alternative-Country und Country-Soul – als Ergebnis von Willy Vlautins Besessenheit von der intensiven, rauchigen Stimme von Amy Boone und ihrer Fähigkeit, seine melancholischen Charaktere zum Leben zu erwecken.“ Das finde ich als Einordnung ganz ok, aber stilistisch habt ihr so viel mehr zu bieten als nur „Country“ und „Soul“. Wie würdest du deine Musik und die neuen Stilelemente bei „Mr. Luck & Ms. Doom“ beschreiben, Willy?

Willy Vlautin: Ach, es ist immer schwer, die eigene Musik zu beschreiben. Und es gibt tatsächlich viele Einflüsse bei den Delines. Unser Keyboarder und Trompeter Cory (Gray) ist ein großartiger Jazz-Musiker, Drummer Sean (Oldham) ist mit Jazz aufgewachsen, und Freddy (Trujillo) ist ein ernsthafter Soul-, Blues- und Rock-Bassist. Er ist mein Lieblingsbassist überhaupt. Das Talent dieser drei Jungs ist unfassbar. Amy und ich können es oft gar nicht fassen, dass wir mit ihnen spielen dürfen. Ich bringe eine Stimmung mit rein, einen Song mit einer eigenen Welt und einer Geschichte, und Amy fügt die Seele hinzu. Wir alle lieben amerikanische Musik: Country, R&B, Jazz. Wenn man all unsere Vorlieben mit ein bisschen Altersreife und Tequila, mit Misserfolgen, Herzschmerz und kleinen Triumphen in einen Mixer wirft, erhält man The Delines.

Du hast für The Delines eine interessante Wendung vollzogen – vom Frontmann der bekannten Kultband Richmond Fontaine zum zurückgenommenen Songwriter und Texter von The Delines. War es eine Erleichterung für dich, nicht mehr als Sänger ganz vorne zu stehen? Oder war die Entdeckung von Amys großartiger Stimme der ausschlaggebende Faktor für deinen Rückzug in die zweite Bühnenreihe?

Willy Vlautin: Ich hatte immer schon Probleme damit, ein Frontmann zu sein. Ich habe es geliebt, bei Richmond Fontaine zu sein, es war eine der großartigsten Sachen, die mir je passiert sind – aber ich glaube nicht, dass ich jemals dazu bestimmt war, das so zu tun, und letztendlich glaube ich auch nicht, dass ich wirklich gut darin war. Ich wollte immer in einer Band wie The Delines sein. Sängerinnen waren schon immer meine Favoriten, und als ich Amy singen hörte, dachte ich: „Ich möchte in einer Band alt werden, in der sie alle Songs singt.“ The Delines begannen als Experiment, wir waren gerade mal eine Woche als Band zusammen, als wir 2014 schon „Colfax“ aufnahmen. Und wir hatten Glück. Die Leute mochten es, und wir liebten es.

„Ich bin jeden Tag begeistert“

Du warst irgendwann als Roman-Autor kommerziell erfolgreicher als mit Richmond Fontaine. Es ist ja eine seltene Sache, dass ein Schriftsteller so seine Karriere als Musiker finanzieren kann. Bist du heute noch überrascht von dieser Entwicklung?

Willy Vlautin: Ja, Mann, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht begeistert bin, dass ich meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Geschichten verdienen und in einer Band spielen kann. Jedes Mal, wenn ich einen Mann in Malerkleidung sehe oder an einer Baustelle oder einem Lagerhaus vorbeikomme, zittere ich vor Angst, dass ich wieder zurück muss, und ich bin jeden Tag so dankbar, dass ich dies nicht machen muss. Und du hast recht, es ist schwer, als Musiker seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Für The Delines müssten wir viel mehr touren, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Wir haben einfach Glück, dass wir alle auch andere Möglichkeiten haben, Geld zu verdienen – wir müssen nur so viel touren, wie wir wollen, und haben immer noch genug Geld, um die Art von Platten zu machen, die wir eben machen.

Irgendwann gab es tatsächlich eine Überschneidung zwischen den Vlautin-Büchern und Delines-Platten, etwa in „The Night Always Comes“ oder zuletzt „Mr. Luck & Ms. Doom“ mit „The Horse“. Wie ist es dazu gekommen? Hast du irgendwann gedacht, dass die Figuren und Charaktere in deinen Romanen und in deinen Liedern viele Gemeinsamkeiten haben? Und, weil ich das Buch gerade unter Tränen gelesen habe: Spiegeln sich Charlie und sein Pferd Lean On Pete vielleicht auch in Delines-Liedern wider? 

Willy Vlautin: Ich denke immer, dass meine Lieder und Geschichten im selben Gebäude leben. Sie treffen ständig aufeinander. Die Sache mit den Romanen ist, dass es so viel Zeit braucht, sie zu schreiben. Ich denke jahrelang über eine Geschichte nach, denke jahrelang über ein bestimmtes Thema und eine bestimmte Figur nach. Während dieser Zeit bin ich erschöpft, verwirrt und ratlos, und dann fange ich an, Lieder zu schreiben, um mir eine Pause zu gönnen. Diese Lieder werden immer von dem beeinflusst, was ich gerade schreibe.

Ja, es gibt also Überschneidungen. „Lean On Pete“ begann zunächst als ein Song namens „Laramie, Wyoming“, von Richmond Fontaine. „The Free“ begann als ein Lied namens „A Letter To The Patron Saint Of Nurses“ von Richmond Fontaine. Der Roman „Don’t Skip Out On Me“ begann als Lied namens „Don’t Skip Out On Me“ von Richmond Fontaine. In „The Horse“ ist es nun anders. Die Songtitel im Buch führten zu tatsächlichen Liedern: „Nancy & The Pensacola Pimp“, „Mr. Luck & Ms. Doom“, „Sitting On The Curb (Watching Our House Burn Down)“ und „There’s Nothing Down The Highway (But The Darkness Of The Road)“ wurden zu richtigen Songs und sind auf der neuen Delines-Platte zu hören.

Eine ganze Welt in einem dreiminütigen Song

„Allmusic“ schrieb über „The Imperial“, meiner Meinung nach das erste große Meisterwerk von The Delines: „Die zehn Tracks funktionieren wie zusammenhängende Kurzgeschichten, nicht nur wie Songs.“ Einige Kritiker vergleichen deinen Schreibstil mit John Steinbeck oder Raymond Carver, einige deiner Romane werden mit Bruce Springsteens musikalischer Kurzgeschichten-Sammlung „Nebraska“ in Verbindung gebracht. Würde es dir nicht reichen, mit Büchern, die oft später auch noch verfilmt werden, gutes Geld zu verdienen? Warum bist du immer noch ein Musiker, der auf kleinen Bühnen spielt, wie demnächst wieder hier in Deutschland?

Willy Vlautin: Danke, dass du das mit „The Imperial“ gesagt hast. Ich habe die Platte auch immer gemocht, wir haben uns wirklich viel Mühe damit gegeben. Der Song „The Imperial“ ist immer noch einer meiner Lieblingssongs. Also, warum bin ich noch in einer Band? Gute Frage. Ich habe schon immer die Kameradschaft in einer Band geliebt, den Klang in einem Raum mit einer Band, das Schreiben von Songs für eine Band, das Erschaffen einer Welt in einem dreiminütigen Song. Das Schwierigste daran, in einer kleinen Band zu spielen, ist die Routinearbeit: Auftritte vorbereiten, zum Gig fahren, Vans und Motels mieten, Platten machen, beim Design helfen, T-Shirts entwerfen und so weiter. Es gibt so viel Routinearbeit. Eine Band verbringt mehr Zeit damit, einen Ort zu finden, an dem sie spielen kann, als mit dem Spielen selbst. Das Schreiben ist das Gegenteil davon.

The Delines – Track by Track

Schauen wir uns die einzelnen Songs von „Mr. Luck & Ms. Doom“ doch mal genauer an. Mit einigen Gedanken über die Musik, die Texte, die Absichten dahinter, die Subtexte…

1. Mr. Luck & Ms. Doom

Willy Vlautin: Ein seltenes Happy-End-Liebeslied, der Song, mit dem die ganze Idee des Albums begann. Ich liebe Corys Bläsersätze bei diesem Stück.

2. Her Ponyboy

Willy Vlautin: Der romantischste und tragischste Song des Albums. Es geht um kaputte Romantik, um eine Romantik der Flucht, der Verliebtheit, des rücksichtslosen Lebens. Aber ein rücksichtsloses Leben ist gefährlich… Ich liebe die Bariton-Gitarre in diesem Song.

3. Left Hook Like Frazier

Willy Vlautin: The Delines von ihrer poppigsten Seite. Wieder tolle Bläser von Cory. Es ist ein Lied, in dem Amy Frauen mit gebrochenen Herzen davor warnt, sich in Männer zu verlieben, die ihre Herzen noch mehr brechen werden. Eine Warnung per Popsong also. Ich liebe es, wenn Popsongs einen düsteren Text haben, und das ist hier der Fall.

4. Sitting On The Curb

Willy Vlautin: Eine Soul-Ballade alter Schule. Eine Frau merkt, dass ihre Welt zusammengebrochen ist, als sie vom Betrug ihres Mann erfährt. Es ist, als hätte er ihr Haus und ihre gemeinsame Welt niedergebrannt.

5. There’s Nothing Down The Highway

Willy Vlautin: Der am meisten von der Wüste beeinflusste Song. Er erinnert mich an eine nächtliche Autofahrt irgendwo im Nirgendwo. Es ist die alte Idee, dass man sich selbst nicht entkommen kann, indem man wegläuft – weil man am Ende immer merkt, dass die Person, vor der man wegläuft, eigentlich man selbst ist.

6. Don’t Miss Your Bus Lorraine

Willy Vlautin: Der politischste Song der Platte. Eine Frau kommt aus dem Gefängnis, weil sie wegen Marihuana verurteilt wurde, nur um festzustellen, dass Marihuana inzwischen legal ist, während sie jetzt eine Verbrecherin ist und keinen anständigen Job mehr bekommen kann. Ich liebe die Art und Weise, wie die Jungs bei diesem Lied mitsingen.

7. The Haunting Thoughts

Willy Vlautin: Es geht um eine Frau, die die Angst nicht los wird, dass die Welt, in der sie lebt, zusammenbrechen wird. Sie sieht die ganze Verzweiflung um sich herum auf den Straßen von Portland/Oregon, und sie hat Angst, dass es auch sie erwischen wird. Dass sie auf der Straße landen wird. Wir wollten diese Ungewissheit und Verletzlichkeit in das Lied einfließen lassen. Es ist einer dieser seltenen Songs, die von Anfang an funktionieren. Es hat sich von selbst gespielt. Corys Klavier ist so großartig und dies ist mein Lieblingsgesang von Amy bisher. Amy hat diese reine Art, sich in die Welt des Textes hineinzuversetzen. Sie macht mich mit diesem Song einfach fertig.

8. Nancy & The Pensacola Pimp

Willy Vlautin: Der wildeste Song der Platte. Corys Bläser sind fantastisch und Amys Gesangsleistung auch. Ein Song über Wahnsinn und Rache, während man durch den Süden fährt.

9. Maureen’s Gone Missing

Willy Vlautin: Dies war einer der ersten Songs, die ich zu den „Mr. Luck & Ms. Doom“-Sessions mitbrachte. Amy sagte mir mal, sie wolle einen Song, in dem eine Frau, die am Rande des Abgrunds steht, mit einer Tasche voller Bargeld die Flucht ergreift. Der Song wird aus der Sicht einer Frau erzählt, die an einem Pool in einem Wohnmotel sitzt und beobachtet, wie all diese verschiedenen Kriminellen vorbeikommen, um nach Maureen zu suchen. Sie ahnen nicht, dass die Frau am Pool Maureen ihr Auto für die Flucht gegeben hat. Ich liebe Corys Bläserarrangements in diesem Stück, und Seans Schlagzeugspiel ist einfach klasse.

10. JP And Me

Willy Vlautin: Mein Lieblingssong von der neuen Platte. Die Geschichte eines Gaunerpärchens auf der Flucht, aber der Mann hat unterwegs einen Nervenzusammenbruch. Das Lied hat das Feeling eines 70er-Jahre-Films. Ein Song, der sich Zeit nimmt, um dahin zu kommen, wo er hin muss. Und wieder singt Amy so großartig.

11. Don’t Go Into That House

Willy Vlautin: Dies ist ein Song, der fast darum fleht, dass Lorraine nicht aufgeben soll: Bitte geh nicht in das Party-Haus, versuch ehrlich zu bleiben, und versuch weiter, nicht ins Gefängnis zu kommen.

Amy Boone – die kongeniale Delines-Stimme

Amy, es gibt ein tolles Zitat von dir im neuen „Uncut“-Magazin: „Ich bin auch nur ein normales Mädchen. Könnten wir nicht mal einen Song haben, in dem der Typ einfach das Mädel bekommt und sie sich verlieben?“ Sind Willys Songs und Geschichten für dich manchmal unerträglich traurig, oder kommst du mit dieser Stimmung insgesamt klar? Und hat Willy deinen Happy-End-Wunsch erfüllt?

Amy Boone: Ich liebe es eigentlich, traurige Lieder zu singen – besonders traurige Lieder mit interessanten Charakteren. Es ist aber auch schön, mal eine Pause von den schweren Themen zu haben, die sich durch die meisten dieser Lieder ziehen. Die romantische Seite in mir will ab und zu ein Happy End. Ich mag die Figuren, die Willy erschafft, und drücke ihnen immer die Daumen.

Ich denke, deine gefühlvolle Stimme passt sehr gut zu Willys Geschichten über Verlierer und arme Leute. Man könnte den Gesang mit Dusty Springfield, Bobbie Gentry, Karen Carpenter oder Erin Moran (A Girl Called Eddy) vergleichen. 

Amy Boone: Mit diesen großen Sängerinnen verglichen zu werden, ist ein wunderbares Kompliment. Ich sehe mich in erster Linie als Geschichtenerzählerin und erst in zweiter Linie als Sängerin. Manchmal spreche ich dabei fast, ohne eine melodische Idee im Kopf zu haben. Außerdem glaube ich, dass es zu einer stimmungsvollen Atmosphäre beiträgt, wenn man der Musik viel Raum zum Atmen lässt. 

Willy und Amy, vielen Dank für dieses Gespräch – und alles Gute!

Das Album „Mr. Luck & Ms. Doom“ von The Delines erscheint am 14.02.2025 bei Décor Records/Indigo. Eine ausführliche Besprechung folgt. (Beitragsbild: The Delines by Jason Quigley)

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